Neue Socken aus Tula
Arsenal Tula – FK Fakel Woronesch
15.05.2016, FNL (2. russische Liga), Arsenal Stadion Tula, Endstand: 1:0
Es gibt diese großen Fußballspiele bei denen der Glanz des großen Spektakels lockt. Klar gibt’s viel Getöse und so ein weites Rund kann sicherlich seinen Reiz entfalten, aber dennoch – die ganze Veranstaltung läuft irgendwie recht kanalisiert ab.
In der 2. Russischen Liga, der FNL ist das nicht zu erwarten. Diesmal fiel die Wahl auf einen Besuch im Arsenal Stadion in Tula. Der dort ansässige Club Arsenal hatte den FK Fakel Woronesch (Voronezh) zu Gast. Schlappe 350 km trennen die beiden Städte. In einer Liga die von Kaliningrad bis ins über 10.000 km entfernte Wladiwostok reicht, ist das quasi ein Nachbarschaftsduell. Somit lockte die Aussicht auf einen feinen Tagesausflug.
Unser Video vom Spiel in Tula.
Tagesausflug
Der Tag beginnt am Kursker Bahnhof in Moskau. Bahnfahren in Russland macht eigentlich immer Spaß. Der Schlafwagenanteil in den Zügen ist allerdings meist sehr hoch. Für Tagfahrten ist das nur bedingt bequem. Deshalb bin ich froh, für die bevorstehenden 200 km noch einen normalen Sitzplatz zu bekommen. Das System offenbart sofort Rationalisierungspotenzial. Jeder der Waggons hat einen eigenen Schaffner. Man kann nur in den zugewiesenen Waggon einsteigen. Die Tickets werden dabei einkassiert und vor dem jeweiligen Ausstieg wieder durch den Schaffner verteilt. Vielleicht hat man so mehr Kontrolle, dadurch fahren aber jedes Mal 30–40 Mann Personal mit.
Auch die Polizei darf dabei nicht fehlen. Sie bittet auf halber Strecke die eigentlich unauffälligen beiden Männer vor mir aus dem Waggon, weil Sie eine Flasche Wodka dabei haben.
Dauerregen
Kurz vor Tula beginnt der Regen auf das Zugdach zu trommeln. Dementsprechend hektisch ist die Ankunft. Gerenne auf dem Bahnsteig. Man rettet sich in den Tunnel. Als es bereits wieder treppauf in den Bahnhof geht, sprintet ein junger Mann in Uniform an mir vorbei, zieht einen Mann an dessen Schulter herum und – PIFF – klatscht ihm die Faust ins Gesicht. Anschreien und dann PAFF! – noch eine rechte Gerade, die den perplex wirkenden Zeitgenossen zehn Stufen runter auf das Halbpodest schickt. Der junge uniformierte, vielleicht ein Kadett, nimmt die Tasche des Niederliegenden an sich, packt diesen am Kragen und schreit weiter. Ich verstehe nur ‘Dokumenty’. Die große Polizei kommt und allmählich wird die Situation klarer. Anscheinend hatte der Strolch die Unordnung auf dem Bahnsteig nutzen und mit dem Gepäck des anderen verduften wollen. Nee, das gehört sich aber auch nicht. Dann aber Diskussionen. Beschwichtigungen und Entspannung. Nun sieht es tatsächlich so aus, als hätte der Mann, der im Kreise seiner Familie jemanden abgeholt hatte, tatsächlich geglaubt, besagte Tasche gehöre seinem Tantchen oder so. Und dieser hat er eben unter die Arme greifen wollen. Sein versehentliche Fehlgriff wird ihm ein paar schöne Beulen bescheren.
Am Bahnhof warte ich den Platzregen ab. Auf dem Gelände finden sich viele militärische Elemente. Ein Panzer-Zug aus dem 2. Weltkrieg kann besichtigt werden und Marschall Schukovs Relief grüßt vom Vorplatz. Tula war ein Zentrum der sowjetischen Rüstungsindustrie und ist es auch im Nachfolgestaat. Die Kalaschnikow kommt von hier. Außerdem darf Tula als eine von zwölf Städten auch den Ehrentitel ‘Heldenstadt’ führen. Hintergrund ist die heldenhafte Verteidigung im ‘Großen vaterländischen Krieg’, wie der 2. Weltkrieg in Russland genannt wird. Der Regen lässt etwas nach. Aufbruch also – Pfützenslalom in Richtung Stadion. Das Spiel ruft und es kribbelt. Nasse Füße sind da zweitrangig.
Alte Bekannte
Das Stadtbild der 500.000-Einwohnerstadt kann sich absolut sehen lassen und deutet nicht unbedingt auf eine Industriestadt hin. Es gibt viele Alleen und die Fußwege sind großzügig breit. Eine der Prachtstraßen ist der Lenin Prospekt an dem auch das Arsenal Stadion liegt. Dort treffe ich zwei alte Freunde aus dem Torpedo Moskau Umfeld. Vor drei Jahren bin ich ihrer Einladung zum Torpedo-Spiel in Dserschinsk gefolgt. Sie wiederum hatten uns mit der Eintracht nach Hoffenheim begleitet. Mit Tula haben sie nichts am Hut. Eher das Gegenteil ist der Fall: Arsenal ist mit ZSKA Moskau befreundet, Torpedo hält es eher mit Spartak. Diese in Russland üblichen Allianzen werden mir als nicht immer ganz förderlich dargestellt.
Teilweise wurzeln sie in den sowjetischen Zugehörigkeitsprinzipien, wonach z.B. die ‘Dynamos’ immer die Polizeiclubs waren. So gab es dieses Muster sportartenübergreifend mit mehreren Dynamos zu sympathisieren: Moskau, St. Petersburg, Minsk, Bryansk etc. (Kiew stellt eine Ausnahme dar). Auch bei der Anhängerschaft der großen Clubs ZSKA, Spartak oder Zenit gibt es Überschneidungen mit kleineren Teams. Oft, so meine Begleiter, stehe es dem Wachstum der lokalen Anhängerschaft in den kleinen Clubs im Weg, dass viele Menschen sich auf die großen ‘Fernsehclubs’ einschießen.
Meine beiden Freunde befanden die heute anstehende Paarung dennoch für eine gute Wahl und beschlossen kurzfristig, dazuzustoßen.
Gegengerade
An den Kassenhäuschen sichern wir uns 3x Gegengerade für jeweils 4€. Bei gut 20.000 Fassungsvermögen und 12.000 Besuchern sind die Karten kein Problem. Für die Zeit bis zum Anpfiff suchen wir Schutz in einer sehr gut gemachten Kellerbar – ‘Stechkin’. Kurzer Imbiss, kurzes Trocknen, dann geht es ins Stadion, eine 1959 erbaute und durchaus charmante Sowjetschüssel. Kurios ist, dass das Dach nur die obere Hälfte der Tribünen abdeckt. Angesichts der in Russland gebräuchlichen Auffassung von ‘freier Platzwahl’ ist dies aber unproblematisch.
Schon beim Reingehen merkt man, dass Arsenal ein Club ist, hinter dem sich die ganze Stadt versammelt. Zwar zeigt sich dies nicht in einer außerordentlich großen Besucherzahl, aber in der Zusammensetzung. Da ist der Opa und der Enkel, der Geschäftsmann und der Packer. Anders als in Moskau, wo das Publikum eher szenelastig unterwegs ist, ist Arsenal Tula eine Angelegenheit für Jedermann. An diesem vorletzten Spieltag steht der Club bereits als direkter Wiederaufsteiger in die Premier Liga fest. Dementsprechend ausgelassen geht es auf den Rängen zu. Es gibt die wie überall etwas gemäßigte Haupttribüne. Die Kurve ist eher dünn besetzt, kann aber einen Ultra-Block vorweisen. Die Party-Tribüne aber ist die gut gefüllte Gegengerade. Es ist ein ganz sympathischer Haufen hier. Auch Fakel Woronesch hat knapp 500 Leute dabei. Sie sind in der anderen Kurve untergebracht.
Das Spiel passt sich dem Wetter an. Es ist ein eher unpräzises Gekicke, arm an Höhepunkten, in dem Arsenal etwas souveräner wirkt als der Gast. Ohne besondere Vorkommnisse geht es in die Pause. Die Tribünen sind von unten erschlossen. Direkt am Rand zur Aschenbahn ist ein breiter Gang vor der ersten Sitzreihe. Das war schon in Jaroslawl so, als der Spartak-Mob in dem Bereich in den Nahkampf gegen die Polizei ging.
Ein wenig Durchdrehen
In Tula wird dieser Gang auch von den Einpeitschern vor der Gegengerade genutzt. Kurz nach der Pause kommt es hier zu Tumulten am Rand zum Gästeblock. Ausgangspunkt ist eigentlich ein interner Zwist: Nicht jeder will sich die Bevormundung durch den Capo bieten lassen und eine kurze Keilerei flammt auf. Ein bisschen Geschiebe vorm Zaun und natürlich kommen alle ungefragt dazugelaufen. Die Aggression geht nun in Richtung des Gästeblocks, der noch durch ein Einlauftor getrennt ist. Schnell lädt sich die Angelegenheit auf. Der Fakel-Anhang geht seinerseits den Zaun an und die Sitze fliegen diskusartig aus der Kurve. Die Polizei ist schnell dazwischen. Es ist einfach Fußball in seiner Urgewalt: Hier wir und dort die anderen.
Über all dem Gegaffe verpasse ich auch noch das einzige Tor des Tages. Arsenal trifft und das Ding wird nach Hause gefeiert. Auch nach dem Spiel feiern sich alle gegenseitig für den Aufstieg. Es ist das letzte Heimspiel in Tula. Alle sind bestens gelaunt und das hier ist Fußball wie man ihn sich wünscht.
Socken 3 for 2
Vier Stunden bis zum gemeinsamen Zug nach Moskau. Es regnet immer noch kräftig. Unsere Schuhe sind längst durch und meine Freunde schlagen vor, dass wir neue Socken kaufen. Gut. Wenn’s verlangt wird, will ich mich den Landestraditionen nicht entziehen. Wir finden dann auch tatsächlich ein 3 for 2 Angebot in einem O’Stin Laden und ich muss mich ernsthaft wehren, damit die beiden mir nicht auch noch das mir zugedachte Paar Socken ‘ausgeben’.
Danach im Restaurant – fernöstlich. Blonde Frauen bedienen in japanischen Kleidern. Wir bestellen und danach verschwindet einer nach dem anderen zum Sockentausch auf die Toilette. Tut zugegeben ganz gut. Das Essen allerdings ist dann auch so wie man das erwartet hat. Es ist ein Curry, aber irgendwie so, als würde ich unvorbereitet zuhause ein Curry machen müssen. Reis, klar. Aber die Sauce schmeckt dann echt nach dem ‘Curry – Pulver’ aus dem Gewürzgläschen und nicht nach ‘einem Curry’. Die enthaltenen Gemüse kann man als russisches Saisongemüse eintüten. Tomaten. Möhren und Kartoffeln. Blond-orientalisch eben.
Trotz des nie aufhörenden Regens beschließen wir noch den Tulaer Kreml anzusehen – wenn man schon mal hier ist. Der Kreml stellt als befestigter Stadtkern das Herz vieler russischer Grenzstädte dar. Tula diente seit dem 16. Jahrhundert als Vorposten des Moskauer Großfürstentums. Heutzutage sind die Kreml meist museal geprägte Bereiche für Touristen. An diesem regnerischen Abend scheinen wir die einzigen Leute zu sein, die innerhalb der Mauern umherspazieren. Als Souvenir kaufen wir noch Tulaer Prjanik. Ein gefüllter Lebkuchen, der als lokale Spezialität gilt wie etwa Marzipan aus Lübeck. Wenn man in Russland sagt, man fahre nach Tula, ist die Standardantwort: ‘Bring Prjanik mit.’ Auch meine Moskauer Begleiter decken sich entsprechend ein.
Rückfahrt im Speisewagen
Für die Rückfahrt haben wir alle nur Bettenplätze. ‘Platzkart’ heißt das auf russisch. Ist für die dreistündige Rückfahrt nach Moskau natürlich Quatsch. Wir halten uns nur kurz dort auf und gehen dann ein paar Waggons weiter zum Speisewagen. Dort ist fast keiner. Dabei hat man kommunikative Tische und Bier und Snacks zu annehmbaren Preisen. Das ist viel besser geeignet für all die Geschichten, die wir zu erzählen haben. Auch über Arsenal gegen Fakel werden wir sicher noch plaudern, wenn wir wieder einmal zusammenkommen – vielleicht ja dann sogar in unseren Socken aus Tula. fg
Fotogalerie zu unserem Ausflug (zum Vergrößern klicken)
Mehr Fussballkultour aus Russland:
Unser kurzes Video vom Spiel in Tula
Bericht: Torpedo Moskau – Dynamo St. Petersburg
Bericht: Shinnik Jaroslawl – Spartak Moskau
Bericht: Khimik Dserschinsk – Torpedo Moskau
Bericht: Lok Moskau – ZSKA Moskau
Weitere Links:
Arsenal Tula bei Wikipedia
Fakel Voronezh bei Wikipedia
Fiery Force Ultras – Fakel
FNL Abschlusstabelle 2015/16
Arsenal Stadion bei Europlan