Lok Moskau (RUS)
Stippvisite in Moskau
FK Lokomotive Moskau – ZSKA Moskau
12.05.2013, Premjer Liga, Stadion Lokomotiv, Endstand 1:4
Ausgezeichnet: Für den Mai stand ein Besuch in Moskau an und damit die Möglichkeit, eines der örtlichen Derbys zu besuchen. Aber bevor es ins Getümmel geht, schlagen wir zunächst noch einmal nach. Die Stadt Moskau ist derzeit mit vier Clubs in der russischen Eliteklasse vertreten. Der traditionell oppositionelle Verein ‚Spartak‘ erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Dahinter reiht sich der ehemalige Armeesportclub ‚ZSKA‘ ein, der sich neben einer großen Gefolgschaft auch sportlichen Erfolges erfreut. Um den zu Sowjetzeiten dem KGB unterstellten Club ‚Dynamo‘ ist es ruhiger geworden seit der Einführung der russischen Eliteklasse im Jahr 1992. Viertbeliebtester Club der Stadt ist der heutige Gastgeber ‚Lokomotive‘, dessen Entstehung tatsächlich auf die Eisenbahner zurückzuführen ist und der auch heute noch für die staatliche Eisenbahngesellschaft RZD auf seinem Trikot wirbt. Ebenfalls namhaft ist der derzeit zweitklassige Traditionsverein ‚Torpedo‘, der sich durch sportlichen Misserfolg, Spaltungen und Umzüge etwas ins Abseits manövriert hat.
Das heutige Duell des FK Lokomotiv gegen den Stadtrivalen ZSKA ist nicht unbedingt als Brennpunktspiel zu verstehen. Spiele zwischen Spartak und ZSKA oder Spartak und Dynamo lassen hier deutlich mehr Brisanz erwarten. Beide Clubs können reichlich Titel aus der jüngeren Vergangenheit aufbieten. Im Hinblick auf die Tabellensituation kann Lok, wenn auch als Tabellenzehnter sicherlich etwas hinter den Erwartungen zurückbleibend, die Saison locker ausklingen lassen. Für ZSKA hingegen ist es ein wichtiges Spiel im Endspurt um die Meisterschaft. Drei Spieltage vor Saisonschluss steht man mit drei Punkten Vorsprung vor dem Titelverteidiger Zenit an der Tabellenspitze.
Im Aufgebot von Lokomotiv tun sich der Kroate Vedran Corluka und der Nigerianer Victor Obinna am ehesten als namhaft hervor. Der alte KSC-Haudegen Slaven Bilic nimmt auf dem Trainerstuhl Platz. In den Reihen von ZSKA kommen neben einigen russischen Nationalspielern auch die Schweden Rasmus Elm und Pontus Wernbloom zum Einsatz, ebenso der Japaner Keisuke Honda und der Brasilianer Vagner Love.
Aber genug ausgeholt und hinein ins Spieltagsgeschehen. Es ist ein hochsommerlicher Sonntagmittag. Zu Fuß geht es vom Hotel zum im nordöstlichen Stadtteil Izmaylovo gelegenen ‚Stadion Lokomotiv‘. Meine Begleiterin ist zwar Moskauerin, erweist sich aber in Sachen Fußball als derart ortsfremd, wie man es sich in Deutschland zu Zeiten von Sportfreunde Stiller und Fanmeile wohl gar nicht mehr vorstellen kann. In ihrer Kindheit, so sagt sie, sei man eben mehr Schlittschuh gelaufen. Immerhin, vor drei Jahren hätte sie einmal selbst gespielt – auf der Hochzeitsfeier ihrer Schwester. Hört, hört. Als Pianistin bewegt sie sich ansonsten wohl doch eher am anderen Ende des Moskauer Unterhaltungsspektrums und somit hält dieser Stadionbesuch ein paar feine Überraschungen für uns beide bereit.
Die erste ist der Kartenkauf. Als wir uns den Weg aus den Seitenstraßen auf den Stadionvorplatz bahnen, wird schnell deutlich, dass die Tageskassen geschlossen sind. Nur noch Loge ist erhältlich, für schlappe 125€ je Ticket. Bei den Schwarzhändlern erweist sich dann die sprachkundige Begleitung als Trumpf und kann uns für immer noch satte 40€ jeweils zwei Tribünenplätze nebeneinander sichern. Ein Originalpreis ist gar nicht erst aufgedruckt. Dort steht freundlich ‚Einladung‘. Aber Hauptsache die Sache läuft.
Das Stadion von Lok ist ein in 2002 fertiggestellter, moderner Komplex mit einem einzigen, aber großzügig angelegten Eingangsbereich. Zwar mischen sich hier die Fanlager, aber angesichts der nur sehr geringen Rivalität ist es ein verträgliches Nebeneinander. Einmal auf dem Gelände, scheint man das ganze Stadion umrunden zu können. Auf dem Weg zum Platz im Oberrang bleibt das Gefühl erhalten, draußen zu sein. Ein üppiger Tribünenbauch mit Verzehrmeile bleibt aus. Wir sitzen auf der Gegentribüne, Strafraumhöhe vor der Gästekurve. Das Stadion empfinde ich als recht gelungen. Zwar ist es durch umlaufende horizontale Ringe geprägt, kann aber dennoch eine klare vertikale Gliederung in vier Tribünen vorweisen. Schmale Aussparungen im Bereich der Flutlichtmasten sorgen hier für eine Einteilung. Das etwas üppig daherkommende umlaufende Logenband dient wiederum als verbindendes Element. Allerdings gibt es ungewöhnlich viel Sichteinschränkung durch Aufgänge und Handläufe.
Angesichts der geschlossenen Tageskassen verwundern die vielen freien Plätze. Vor allem der Oberrang über dem Bereich der Lok-Ultras ist nur sporadisch besetzt. Gut 30.000 Zuschauer gehen rein, 24.800 sind da. Mindestens 1/3 sind heute ZSKA gefolgt. Um uns herum sind die Sympathien völlig gemischt, die Leute aber von gemäßigter Impulsivität. Schon am Eingang fiel auf, dass Loko keineswegs dem allgemeingültigen Bild des mob-dominierten osteuropäischen Fußballpublikums entspricht. Hier wirkt alles vergleichsweise zahm und familienfreundlich. Die Mannschaften laufen ein und nehmen Haltung für die russische Nationalhymne an. ZSKA lässt dazu ein recht gefälliges Banner vom Oberrang hinab, das ein Wikingerschiff mit ZSKA-Segel zeigt.
Überhaupt stellt die Gästetribüne schnell klar, dass man heute Herr im Hause ist. Meine Begleiterin erfreut sich derweil sehr an der Lektüre des Programmhefts und erklärt mir nicht ohne Stolz, dass Loko die Mannschaft in Rot sei. Gut zu wissen. Auch stellt sie fest, dass jede Mannschaft zehn Spieler auf dem Platz habe. Im Heft aber, so zeigt sie mir, sind doppelt so viele abgebildet. Wo ist also der Rest? Meine Erklärung, dass nicht immer die gleichen und keinesfalls alle Spieler auflaufen, stößt, ich sehe es ihr an, auf wenig Verständnis.
Sie bleibt beharrlich bei den Aufgeboten und bemerkt verblüfft, dass die Spieler zum Teil gar keine Russen seien, obwohl Lokomotiv doch aus Moskau kämen. Das sei durchaus üblich heutzutage, versichere ich ihr. Anerkennendes Nicken: Sie findet das gut. Dann die Frage, wo ZSKA denn herkämen. Auch aus Moskau, ein anderer Moskauer Club, vermag ich das bekannt geglaubte aufzuklären. Von ‚Derby‘ fange ich hier gar nicht erst an. Stattdessen deute ich auf die Gästekurve und erkläre, dass nicht zuletzt deswegen auch so viele ZSKA-Anhänger hier seien. Sie hebt ihren Blick vom Programm und mustert das Rund. Oh – spielen sie schon?
Und in der Tat rollt bereits der zweite Angriff von ZSKA in Richtung des Lok-Tores. Der Lauf dieses Spiels zeichnet sich schnell ab. Bei Loko reicht es über ein paar gefällige Einzelaktionen nicht hinaus, das Spiel ohne Ball findet bei den Gastgebern kaum statt. Die Vordermannschaft vermag individuelle Stärke am Ball anzudeuten, aber Zusammenspiel und Abstimmung sind auffallend defizitär. Auch die Einsatzbereitschaft spiegelt in erster Linie die 28 °C und den 10. Tabellenplatz wider, nicht aber den Willen, hier irgendwas reißen zu wollen.
Ganz anders der Spitzenreiter. ZSKA spielt engagiert und kontrolliert. Keinesfalls ist das ein Sturmlauf, aber es reicht, um schnell die entscheidenden Szenen einzuleiten. Bereits nach 6 Minuten verpasst es Lok, vor dem Strafraum zu klären und Vagner Love hämmert den Ball in den Winkel. Lok versucht es zaghaft. Ein halbherziger Abschluss vom Senegalesen N’Doye wird mit kollektivem Affengegröhl aus dem ZSKA-Block bedacht. Leider bleibt das kein Einzelfall heute und wird auch auf der gegenüberliegenden Seite praktiziert. Es wirft einen tiefen Schatten auf den ansonsten sehr unterhaltsamen Fußballnachmittag.
Für meine Begleiterin lässt der Unterhaltungswert spürbar nach. Ich bemühe mich, sie im Spiel zu halten, erkläre Toraus- und Seitenlinie, Eckstoß und Einwurf. Sie vertraut weiterhin eher auf das Heft und fühlt mir ein ums andere Mal auf den Zahn. ‚Du sagtest Lok kämen aus Moskau und ZSKA auch. Genau. Bist du dir sicher mit ZSKA? Absolut. Na dann sag mir mal bitte, warum hier über ZSKA ‚Gast‘ steht, wenn die genauso aus Moskau sind…‘
Zurück auf dem Platz. Aufgrund der Hitze gibt es Trinkunterbrechungen zur Mitte der Halbzeiten. Es bleibt dabei, ZSKA dominiert nach Belieben. Musa (26.) legt nach, bevor Vagner Love (43.) mit dem 3:0 fast schon alles klar macht. Der Gästebereich ist in Feierlaune und hüllt sich in Rauch. Der ZSKA-Anhang ist sehr ultra-geprägt. Die gesangliche Abstimmung ist bestens organisiert und Ober- und Unterrang funktionieren gut miteinander, siehe auch dieses Video. Ich frage, was denn da gesungen werde. Die Farben von ZSKA seien die besten, oder so was. Mehr und mehr wird klar, dass sich hier neben mir kein neuer Fußballfan gefunden hat. Halbzeit. Genau, genau, die Hälfte ist rum, nach einer Pause noch einmal weitere 45 Minuten.
Zu deren Beginn ein Anflug von Spannung: Tarasov erzielt den Anschlusstreffer für Lok (55.). Irgendwie durchgewühlt. Geht doch. Die bis dahin völlig passive Heimtribüne erwacht noch einmal. Es reicht allerdings nur zu einem Strohfeuer. Das große Aufbäumen bleibt heute aus. Als zwanzig Minuten später der eingewechselte Doumbia den alten Abstand wieder herstellt, ist das Spiel gelaufen. Die weitgehend entkleidete ZSKA-Fangemeinde singt das Ding nach Hause. Letzte pyrotechnische Reserven werden auf beiden Seiten verwertet. Es rumst gewaltig. Anmerkung meiner Begleiterin: ‚Ich glaube nicht, dass die das dürfen‘. Als wir beinahe am Ende angelangt sind, kommt dann doch noch die befürchtete Frage. Eine Abseitsentscheidung gegen Lok und meine Begleiterin, die sich nun tatsächlich vom Spielgeschehen unterhalten lässt, möchte wissen warum es gestoppt wurde. Ich mach’s kurz und beteuere, ich hätte es auch nicht gesehen. Im Heft steht anscheinend auch nix dazu.
Dann der Schlusspfiff. Lok-Publikum ist kaum noch da. Die Blauroten feiern, während die Spieler nach verhaltenem Winken geradewegs in die Kabine steuern. Auch wir machen uns auf den Heimweg und sind beim Anblick des Gewühls froh, nicht in die Metro zu müssen. In den Straßen hupt man sich zu. Für ZSKA fühlt sich das nach drei dicken Punkten an. Und in der Tat, Zenit lassen abends zwei in Rostow liegen, so dass sich ZSKA eine Woche später in Krasnodar die Meisterschaft sichert.
Für mich hält Moskau noch ein Vorbeischauen auf der Baustelle des alten und neuen Dynamo Stadions sowie beim Luzhniki Stadion bereit. Entsprechende Bilder finden sich neben ein paar Eindrücken aus der Stadt in der Galerie weiter unten. Auffällig war auch der in Moskaus Straßen ausgetragene Aufkleber-Wettstreit der einzelnen Fangruppen. Diese Sammlung gibt’s hier zu sehen. fg
Fotogalerie (zum Vergrößern klicken)