- Estland: Narva

 

East meets further east

 

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04.10.2014, Meistriliiga, Kalev-Fama-Staadion, Endstand: 0:0

Bis hierhin und nicht weiter…

Auch Estland zeigt sich dieser Tage durch die Russland-Krise aufgewühlt. Eine spezielle Rolle inmitten dieser nationalen Besorgnis nimmt die Stadt Narva ein. Narva ist der östlichste Punkt des Landes und steht der russischen Stadt Ivangorod gegenüber. Historisch ist die Stadt, wie die gesamte Region, immer wieder durch verschiedene Hände gegangen. Die Mündung des Flusses Narva stellt jedoch seit Jahrhunderten eine Linie dar. Unabhängig von wechselnden Machthabern trafen hier die römisch-katholische/ protestantische Welt und die orthodoxe Kirche aufeinander. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 wurde die Trennlinie zwischen der Estnischen SSR und der Russischen SSR zu Staatsgrenze. Seit 2004 stellt sie die Außengrenze von EU und NATO dar. Während Narva auf diese Grenze blickt, blickt Estland auf Narva.
Vielleicht wäre man weniger besorgt, wenn Narva in sozialpolitisch ruhigen Gewässern läge. Doch gut 90% der in Narva lebenden Bevölkerung sind ethnische Russen. Hinter vorgehaltener Hand wird nun auch den Esten mehr und mehr bewusst, dass man genau jenen Russen nicht unbedingt viel Aufmerksamkeit geschenkt hat in den Jahren der Unabhängkeit.

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Geopolitischer Brennpunkt

Sewastopol ist passiert, Donezk ist passiert. Narva, Stadt großen russischen Triumphs wie Sewastopl und obendrein Partnerstadt von Donezk wird in diesem Zusammenhang lieber nich in den Mund genommen. Der Kreml-unabhängige russische Politikanalyst Andrey Piontkovsky tat es dann doch und richtete die Frage an den Westen: ‘Do you want to die for Narva?’.

Was in seiner Direktheit vielleicht überspitzt klingt, ist aber tatsächlich eine Grundsatzfrage. Anders als die östliche Ukraine oder Transnistrien ist Narva ein Stück EU und eben auch Teil des NATO-Bündnisbereichs. Ein Überschwappen des Konfliktes auf Narva wäre eine Ausweitung dessen, was bislang als eine ‘Krise’ gilt. Ein Eingreifen der NATO wäre mit Opfern verbunden. Das eigentlich fatale aber sieht Piontkovsky in einem Nicht-Eingreifen. Hierin sähe er den Tod des Bündnisses.
Alles hypothetisch. Aber auch diese spezielle Rolle der Stadt ist ein Grund, sich das ‘Pulverfass’ Narva einmal anzuschauen.

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Pulverfass oder Provinzleben?

Am Samstagmorgen geht es mit dem Zug von Tallinn in Richtung Osten. Bahnfahren ist nicht teuer in Estland und sehr komfortabel. Als dann 20km vor Narva die Wolken verschwinden, passt wieder einmal alles. Es fühlt sich an, wie man sich den Herbst nur wünschen kann und bald glänzt auch schon Narvas Bahnhof wie rausgeputzt im Sonnenlicht.
Die Straßen strahlen Alltagsruhe aus, eine zahme Geschäftigkeit, wie sie nicht allzu großen Städten eigen ist. Von der angesprochen Brennpunktsituation ist hier überhaupt nichts zu spüren. Plüschtiere in den Fensterbänken statt Parolen an den Wänden, kein Protest, keinerlei sichtbare Spuren eines gesellschaftlichen Zerrisses. Klar ist das Russisch allgegenwärtig und auch baulich ist die Stadt sehr sowjetgeprägt. Der Krieg hat nicht viel übergelassen von der einst blühenden Handelsstadt. Inmitten der Zeilenbauten der Nachkriegszeit wirken einzelne Altbauten, wie das Rathaus beinahe deplaziert.

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‘Da drüben sitzt der Russe’

Die Grenzsituation zeigt sich dann aber doch noch, und das auf eine Art, wie man sie nicht besser hätte inszenieren können. Hoch über der Narva stehen sich zwei Festungen gegenüber. Auf estnischer Seite ist das die Hermannsfeste aus dem 13. Jahrhundert. Auf dem russischen Ufer steht ihr die Festung Ivangorod gegenüber, die im 15. Jahrhundert entstand. Zwischen diesen beiden Bollwerken schlängelt sich der Fluss durch das Tal. Eine Brücke mit den beiden Grenzstationen ist die einzige Verbindung in dieser eindrucksvollen Kulisse. Ich muss an die frühen Klassenfahrten meiner Schulzeit denken. ‘Da drüben sitzt der Russe’ tuschelte man sich wissend und verheißungsvoll zu, wenn der Bus am Torfhaus vorbeifuhr und sich der Blick auf den Brocken auftat.

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Krenholm Dynastie

Ein Stück flussaufwärts findet sich das leider unzugängliche Areal der einst größten russischen Bauwollspinnerei ‘Krenholm’. Im 19. und 20. Jahrhundert legten an der Mündung des Narva Flusses Baumwollschiffe an, die direkt aus den USA oder aus Liverpool kamen. Krenholm glich den großen Fabriken im Norwesten Englands. Arbeiteten hier in der 70er Jahren noch 12.000 Menschen im staatlichen Betrieb, sind es heute nur noch 500. Der Niedergang Krenholms hat sich auch auf die Stadt ausgewirkt. Es ist dünn an Perspektiven, hier am äußeren Zipfel eines Landes, zu dem man sich nicht hingezogen fühlt. So sehen sich die Menschen selbst ein bisschen wie die Brücke über ihren Fluss: Zwischen den beiden Ufern und keinem so recht zugehörig.

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Rüber zum Fußball

Check-in im ‘Inger Hotel’ am späten Nachmittag. Gut & günstig könnte man sagen. Pluspunkt: Das Kalev-Fama-Stadium ist in Sichtweite. Um 20 Uhr geht es dort auch los. Das Stadion ist lustig. Ein neuer Kunstrasenplatz mit zwei unüberdachten Stahlrohrtribünen auf den Längsseiten. An der Stirn – und Eingangsseite ist eine Art symmetrisch angeordnete Containersiedlung platziert. Gekrönt wird diese von einer Las Vegas-haften Lichtinstallation, die das Stadion ankündigt. Ich beschließe, dass sie mit ihrem rotierenden Fußball eigentlich schon wieder geil ist.

Narva Trans spielen hier erst seit kurzem. Die meisten Quellen weisen den Club noch dem Krenholmi Stadion im Süden der Stadt zu, dass ich am Nachmittag aufgesucht hatte. Dadurch, dass das gegenüberliegende Einkaufszentrum ‘Fama’ begann, dem Club unter die Arme zu greifen, kam diese neue Spielstätte zustande. Wie kurios diese Liaison ist, bekomme ich an diesem schon sehr kalten Abend zu spüren. Tatsächlich dient das Einkaufszentrum mit seiner Gastronomie als Verpfleger, als WC und als Aufwärmort für das Stadionpublikum. Im Stadion selbst gibt es nichts dergleichen. Ganze 103 Zuschauer werden gemeldet. Da lohnen sich eben auch keine Bratwurstbuden.

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Flutlichtabend

Narva Trans hat in den vergangenen fünf Jahren immerhin jährlich den Sprung in die Europa-League Quali geschafft. Fünfmal gab es dort allerdings ein Erstrundenaus. In dieser Saison reicht es nur zum unteren Tabelldrittel, ähnlich dem heutigen Gegner aus Paide. Das Spiel macht Spaß. Zwar ist es von Fehlern und Abschlusschwäche geprägt, aber es geht dennoch rauf und runter. Das Publikum geht auf authentische Weise gut mit. Der empfindlich kühle Abend macht irgendwie auch schon wieder Lust auf die nebligen Abende unter gleißendem Flutlicht, in denen die Menschen sich um den leuchtenden Rasen scharren und der kalten Luft trotzen. Das Spiel bleibt torlos, aber eine gelungene Veranstaltung. Doch jetzt schnell ab ins Fama Center zum Aufwärmen.

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Abschied

Tags drauf ist der Zauber vorbei. Die Kälte ist geblieben, aber die Sonne kommt nicht durch. Die Stadt hat ihren Glanz verloren. Passend dazu mein wenig ambitioniertes Programm. Ich gehen den Fluss hinunter bis an den Nordrand der Stadt. Ein Kriegsgräberfriedhof. Gut 10.000 deutsche Soldaten sind hier begraben. Die Kreuze nach wie vor in Reih und Glied aufgereiht, sind hier alle gleich, ob armer Hund oder Verbrecher. Links des Weges sind die Inschriften aus dem Jahr 1941. Rechts von ihm in einer Vielzahl die aus 1944. ‘Der Rückweg war verheerender’ denke ich und mir fällt auf, wie sehr dieser Ausdruck passt.

Nachmittags geht mein Zug zurück nach Tallinn und ein großartiger Ausflug geht zu Ende. Ich mag Wochenenden in kleineren Städten. Es ist persönlicher und direkter. Man kommt dem Ort irgendwie näher, als wenn man in Rom die Sehenswürdigkeiten beackert. Man nimmt mehr mit, baut eine Verbindung auf. Dementsprechend unterscheidet sich auch der Abschied. Es fühlt sich anders an, in so einer Stadt zum Bahnhof zu gehen, als in irgendeinem Flughafenexpress zu sitzen. fg

 

Fotogalerie aus Narva (zum Vergrößern klicken)

 

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Sonstige Links zu diesem Bericht:

Die Stadt Narva auf Wikipedia
Elron – Bahnverbindungen in Estland
Inger Hotel
Museum
Krenholm heute
JK Narva Trans
Paide Linnameeskond