Torpedo zurück an alter Heimstätte
FK Torpedo Moskau – Dynamo St. Petersburg
18.10.2013, FNL (2. russische Liga), Eduard-Strelzow-Stadion, Endstand: 2:0
Fußball Club Torpedo
Torpedo Moskau. Ein Name, kraftvoll wie ein Raketenstart. Drei Sowjetmeisterschaften, sieben Pokalsiege und 20 Europapokal-Saisons. Torpedo hat sicherlich seine Geschichten zu erzählen.
Die sportliche Gegenwart des Clubs polarisiert allerdings weniger. Der Ligaalltag in der FNL, der zweiten russischen Liga hält reihenweise so schöne Ansetzungen wie Montag 15 Uhr bereit. Spiele am Samstag oder Sonntag sind selten. Es ist ein echter Überlebenskampf für die Clubs, die sich obendrein Reisen durch das ganze weite Land gegenüber sehen. Dazu hat diese Liga mit vier Abstiegsplätzen ordentlich Gewichte an den Beinen, stets drohend, einen noch tiefer zu ziehen.
Aber Torpedo hat Ärgeres hinter sich: Verkäufe, Aufsplittungen, Umbenennungen, schließlich gipfelnd im Niedergang bis in den Amateurfußball der 4. Liga im Jahr 2009. Mit Beginn der laufenden Spielzeit verlor der Club nun auch noch seine natürliche Heimat.
Das Gelände des Eduard-Strelzow-Stadions wurde vom russischen Milliardär Mikhail Prokhorov aufgekauft. Dem Eigentümer des NBA-Teams ‘Brooklyn Nets’ schwebt ein moderner, überdachter Sport-Komplex vor. Inwiefern Torpedo eine Rolle in den Überlegungen spielt, bleibt abzuwarten. Seit Beginn der laufenden Spielzeit mussten die Schwarzweißen bereits weichen. Die hohe Strelzow-Miete war mit dem 2. Liga Etat nicht zu stemmen. Leider bestreitet man die Heimspiele nun 45km entfernt, dafür erschwinglich, in der Vorstadt Ramenskoje.
Für einen Club wie Torpedo, der so sehr von seiner Verortung lebt, ist eine solche Entfremdung eine weitere schwere Bürde. In Zahlen heißt das: Ganze 717 Zuschauer im Schnitt (Angabe ‘Soccerway’).
Anders als Spartak, die stets die Sympathie des Volkes in weiten Teilen des Landes genossen, oder Dynamo, die stets die Behörden hinter sich wussten, war Torpedo immer der Stadtteilclub der Autobauer. Anders als in unserem Sprachgebrauch nämlich meint ‘Torpedo’ im Russischen keineswegs in erster Linie die U-Boot Waffe. Der Begriff ist hier im Karosseriebau von Fahrzeugen gebräuchlich und wird außerdem ähnlich dem deutschen Wort ‚pfeilschnell‘ gebraucht. Der Club selbst stand in seiner Entstehungsgeschichte lange Zeit dem Automobilwerk ‘SIL’ nahe, was auch heute noch zur Identifikation beiträgt. Noch heute sieht der Club das nahe dem Werksgelände und der Metro Station ‘Avtozavodskaya’ gelegene Eduard-Strelzow-Stadion als seine Heimstätte an.
Tatsächlich mal ein Volltreffer!
‘Nix zu holen im Strelsov-Stadion’ denke ich mir noch eingangs der Woche und begnüge mich stattdessen mit einer Stippvisite. Es ist ein herrlicher Herbsttag, der zumindest gute Fotos verspricht. Die gibt es auch und sie sind weiter unten zu sehen. Das Stadion und seine Lage beeindrucken mich. Am selben Abend schlage ich noch mal nach und taste mich durch die Torpedo-Fanseite. Im Forum fällt ein frischer Beitrag durch sehr viele Antworten auf. Ich wähne irgendeinen Paukenschlag. Und tatsächlich, die Google-Übersetzung verkündet in holprigem Deutsch ein Gerücht, Torpedo spiele das Heimspiel am Freitag im Strelzow! Dies verhärtet sich schnell. Der Hintergrund ist, dass draußen in Ramenskoje Anzhi Makhachkala ihr Europa-League-Spiele gegen Tromsö bestreiten werden. Der Platz ist bereits arg strapaziert. Torpedo soll daher für ein Spiel fern gehalten werden. Saugut.
Flutlichtabend
Über Dynamo St. Petersburg, den Gegner an diesen Freitagabend ranken sich weitaus weniger Geschichten. Bereits drei Wiedergründungen zeugen von einer unstetigen Vereinsgeschichte, die zumeist in der dritten Liga stattfand.
Mit der U-Bahn fahre ich nach Avtozavodskaya. An der Station angekommen sieht man erstmals vereinzelt Fußballpublikum. Nach fünf Minuten Fußweg ist man schon an den Kassenhäuschen, wo ich für umgerechnet weniger als 5€ eine Karte für die Osttribüne bekomme. Was mir sofort auffällt ist die sehr gewählte Kleidung der Leute. Ich habe ein paar Jahre in Liverpool und London verbracht, wo der Stadionbesuch viel mehr mit einem bewussten Kleiden und Marken verbunden ist als in Deutschland. Noch deutlicher ist das hier und heute. Stone Island, Henri Lloyd und Adidas erfreuen sich großer Beliebtheit und die neblig-kühle Flutlichtluft passt richtig gut dazu. Ist irgendwie auch Russland, wo man zuhause nur in Puschen und Pyjamas abhängt, sich aber immer gut kleidet, wenn man aus dem Haus geht.
Mein Platz ist mitten im Stimmungsblock. Fühlt sich anfangs komisch an, legt sich aber schnell. Ich verstehe zwar nix, aber die Leute wirken ganz entspannt. Der 18 Uhr Anpfiff hat viele Nachzügler zur Folge. 2.800 Zuschauer finden sich nach und nach ein. Auf der gegenüberliegenden Haupttribüne sitzen die meisten eher locker verteilt. Eine Gruppe Steher hat sich auch dort formiert. Auf unserer Tribüne sind nur zwei Blöcke freigegeben, dadurch steht man recht kompakt. Sitzen mag hier niemand. Es ist viel Bewegung auf der Tribüne. Man kennt sich und begrüßt sich. Auch wurden am Eingang die Feuerzeuge einkassiert. Daher sind ständig irgendwelche Leute unterwegs, um sich bei anderen die Zigaretten anzuzünden. Anders als das olympische Feuer, dass hier neulich unter Pannen durch die Stadt getragen wurde, geht dieses eine niemals aus, mehrt sich und mindert sich, aber scheint das ganze Spiel über den Block zu bedienen.
Auch knapp 50 Gästefans haben eingangs der Kurve mit einigem Abstand von uns Position bezogen und machen sich durch Zaunfahnen bemerkbar.
Fußballspiel und Fahnenjagd
Keine Nationalhymne wie in der 1. Liga. Stattdessen leichte Marschmusik zum Spielbeginn. Torpedo, ganz in Weiß, ist bemüht, das Spiel zu gestalten. Spritziger wirken allerdings die Gäste. Die Unterstützung von den Rängen ist sehr konstant und kann sich absolut sehen lassen. Vor allem die Gruppe gegenüber initiiert immer wieder Wechselgesänge. Die Führung besorgt dann Torpedo nach einem Eckball in der 35. Minute.
Nach der Pause kommen vor allem die Tribünen in Fahrt. Zunächst zeigen die Petersburger demonstrativ ein beschriftetes Laken in Richtung Heimblock. Das Getöse nimmt nur kurzweilig zu. Eine ganze Weile später fliegen zwei Leuchtraketen auf die Laufbahn vorm Gästeblock. Jetzt geht’s richtig los. Erst Gerenne vor dem Eingang zum Gästeblock und dann brechen aus unserem Block die ersten Leute auf die Laufbahn aus. Zuerst schlüpft einer durch und dann wird die Ordnerreihe einfach überrannt. Alles rennt auf den Gästeblock zu, wo die Petersburger in den oberen Teil ihres Käfigs zurückweichen. Unten werden die beiden Zaunfahnen abgerissen, während das Gros der Leute auf den Blockeingang drängt. Dort werden sie abgepuffert vom Polizeiaufgebot. Jetzt sind auch die Torpedospieler mit dabei und beruhigen die Gemüter. So trabt der Tross von etwa 50 Mann dann unter dem Jubel des Torpedo-Anhangs wieder zurück zum Heimblock und lässt sich feiern. Natürlich werden die Piter-Banner unter Schmähgesang präsentiert, versteht sich doch.
Als das Spiel fortgesetzt wird, ist es reich an Möglichkeiten. Dynamo rennt mit hohem Laufpensum an und hat seine Möglichkeiten. Auch Torpedo lässt die Konter liegen, bis kurz vor Schluss schließlich die kraftlose Piter-Abwehr überwunden werden kann. Das Spiel ist entschieden und das Stadion singt den Sieg nach Hause. Durch diesen wahren Torpedo die Tuchfühlung zur Spitzengruppe. Dynamo steckt weiterhin im Abstiegskampf fest.
Auf dem Weg zur U-Bahn gibt es noch ein paar Manöver entlang der Hauptstraße. Ein sich formierender Mob wird von der Reiterstaffel der Polizei mit beeindruckender Effizienz abgeräumt. Wie Schäferhunde ihre Herde verstehen sie es, die Menge zu teilen, zu einen und zu lenken und im Nu ist die Straße frei. Richtig kalt ist es geworden. Ich bin froh, nun in die Wärme des U-Bahntunnels abzutauchen. Und ich bin froh, hier gewesen zu sein, denn das war richtig geil!
Unser Video zeigt die entscheidenden Szenen auf dem Platz und auf den Rängen. Gute Aufnahmen vom Eduard-Strelzow-Stadion finden sich in der Galerie ganz unten. fg
Weitere Links:
Unser Bericht vom Moskauer Derby ‘Lokomotiv – ZSKA’
Unser Bericht FK Strogino Moskau – Zenit St. Petersburg II
Inoffizielle Torpedo Seite auf Englisch
Gelungenes Video zum 2:0
Eduard-Strelzow-Stadion
Dynamo St. Petersburg – Offizielle Seite
Soccerway zur 2. Russischen Liga
Eine Liebeserklärung: Das Eduard-Strelzow-Stadion
ZSKA bauen, Dynamo bauen, Spartak bauen … und bei Torpedo könnte bald etwas ganz anders stehen. Also nochmal hin. Angenehm ursprünglich erscheint das Eduard-Strelzow-Stadion gerade vor diesem Hintergrund. Bei schönstem Herbstwetter haben wir noch ein paar Bilder im Alltagszustand gemacht. Es ist ein wirklich schönes Gelände. Erhöht über der Moskwa liegt der Stadteil Avtozavodskaya. Aus diesem gelangt man vom Eingangstor durch einen kleinen Park zur Oberkante der in den Hang gebauten Osttribüne. Über Treppen hinter den Kurven geht es hinunter auf die Ebene des Flussufers. Hier ist als Hauptribüne die Westtribüne errichtet, die auch die Funktionsräume beherbergt. In den Kurven sind nur kleine Tribünen um jeweils ein Sporthallengebäude (Boxen und Gymnastik) errichtet. 13.450 Zuschauer finden im 1959 gebauten Stadion Platz.
Außerhalb der Großveranstaltungen ist das Gelände frei zugängig und wird für den Breitensport genutzt. Seine Zukunft ist jedoch unklar und hängt von den Vorstellungen des neuen Eigentümers ab. fg