Ausflug mit Torpedo
FK Khimik Dserschinsk – Torpedo Moskau
17.11.2013, FNL (2. russische Liga), Khimik-Stadion, Endstand: 0:3
Der Zug ächzt kraftlos durch Moskau. Viel zu gequält, viel zu langsam ist der Takt der Gleisstöße. Der in der kargen Beleuchtung blechern schimmernde Schallschutz scheint kein Ende zu nehmen. Vor dem Fenster wirkt es, als ginge jemand mit einer Kulisse vorbei. Der Zug wird nicht einmal merklich langsamer als wir schließlich in den Bahnhof Belorusskaja einfahren. Er stoppt einfach. Und endlich sind wir da. Mit morschen Gliedern klettern wir hinaus auf den Bahnsteig, ermattet von einem langen Tag.
5.45 in der Nachbarschaft
Zunächst aber beginnt dieser Tag wie er endet, müde. Um 5.45 Uhr treffe ich Artem. Er ist Anhänger von Torpedo Moskau und selbst Blogger. Vor einigen Wochen lernte ich ihn über meinen Bericht zum Heimspiel Torpedos gegen Dynamo St. Petersburg kennen. Beim anschließenden Treffen in einer Kneipe lud er mich ein, Torpedos letztes Auswärtsspiel in diesem Jahr zu besuchen. Es sollte ins nur vierhundert Kilometer entfernt gelegen Dserschinsk zum FK Khimik gehen. Abgemacht. So komme ich in den Genuss eines Komplettpakets: Bahnfahrten und Ticket organisiert Artem. Kurios aber ist unser Treffpunkt. 12 Millionen Menschen wohnen in Moskau, aber wir beinahe nebeneinander. Wir haben nicht schlecht gestaunt, als wir über einer Bierdeckelskizze herausfanden, dass meine Bleibe in derselben Straße ist wie seine Wohnung, er in #3 und ich in #7.
Die Ringbahn bringt uns zum Kursker Bahnhof. Hier startet der zwischen Moskau und Nischni Nowgorod verkehrende Schnellzug ‘Sapsan’. Der ‘Wanderfalke’ ist ein Verwandter des ICE3, allerdings in einer wintertauglichen Variante. Komfortabel geht es also in weniger als vier Stunden ins 400km entfernte Dserschinsk. Der Fahrpreis bleibt mit 30€ dennoch erschwinglich. Ein wenig Flair der alten Züge bleibt dennoch erhalten: Zwei Betrunkene sind bestens gelaunt und führen ein paar Sitze weiter ein angeregtes Gespräch, ohne sonderlich dessen Lautstärke im Griff zu haben. Die überdehnten Stimmlagen schwanken zwischen erschöpfter Trunkenheit und plötzlich aufgeregtem Fluss. Ich male mir in Gedanken zwei Comicfiguren dazu aus und muss selbst lachen. Artem meint, das Gespräch handele vom Zionismus in der russischen Politik. Häufig wenn russische Männer betrunken seien, ende das Gespräch irgendwo zwischen Politik und Philosophie.
Dserschinsk in den Top 10 der Welt
Ich wusste nichts über Dserschinsk. Füttert man Google mit ‚Dserschinsk‘ und wählt die Bildanzeige aus, zeigt sich ein verheerendes Bild. Als verwandte Begriffe werden ‘Tschernobyl’ und das chinesische ‘Linfen’ angeboten und damit sind wir schnell auf der richtigen Fährte: Das Blacksmith Institute führte Dserschinsk im Jahr 2007 als einen der zehn am meisten verschmutzen Orte der Erde (Vgl. Link unten). Boden und vor allem Wasser gelten als hochgradig verseucht. Die Stadt war zur Sowjetzeit Zentrum der Chemiewaffenproduktion und Entsorgungsstätte zugleich. In das Thema Lebenserwartung will ich hier gar nicht erst nicht einsteigen. Seit Beginn des neuen Jahrtausends werden anscheinend vermehrt Gegenmaßnahmen ergriffen. Naheliegend: Der Clubname ‘Khimik’ bedeutet so viel wie ‘Chemiker’. Auch hier hat der Sozialismus Verderben bringendes als Heil und Wohlstand bringend eingekleidet. Deutsche Partnerstadt ist übrigens … ganz genau ‘Bitterfeld’. Die Umweltverschmutzung scheint mittlerweile so etwas wie das Wahrzeichen der Stadt zu sein und Teil der lokalen Identität. Auch die Khimik – Fanszene hat sich unter dem Namen ‚Dust‘ versammelt.
Um es vorwegzunehmen: Zu spüren ist von all dem nichts, als wir aus dem Zug aussteigen und durch die Stadt spazieren. Klar ist das kein Kurpark hier, aber es fallen einem auch nicht gleich Tauben vor die Füße. Dserschinsk wirkt wie eine ganz normale, vielleicht etwas abgenutzte kleine Stadt in Russland.
Wir haben fünf Stunden bis zum Anpfiff rumzubringen. Ausgedehnter Rundgang und dann Mittagessen in einem Kafe. Ein Kafe ist keinesfalls ein Café. Vielmehr ist es eine Gaststätte oder ein Imbiss. In diesem hier sind aufgrund der Stadionnähe schon einige Torpedo-Fans. Obwohl oder vielleicht gerade weil die Zapfhähne in der Umgebung geschlossen bleiben, wird es an manchem Tisch unruhig und irgendwann sortiert die Polizei einige Leute aus. Wir essen auf und gehen zum Stadion, einem alten Sowjetbau, recht liebevoll geschaffen für verschiedenste Sportarten. Ich mag zwei Dinge. Zum einen die in den Außenputz eingearbeiteten Wandbilder, die Sportler zeigen. Zum anderen gefällt mir, wie hier städtebaulich gedacht wurde. Nicht etwa die Haupttribüne ist nach Außen das Gesicht des Stadions, sondern ein Kurvenbereich, der zum Hauptplatz der Stadt ausgerichtet ist.
Gut gelaunter Gästeblock im Khimik Stadion
Rund um das Stadion sind bereits mehrere Straßen abgesperrt, was angesichts des geringen Zuschaueraufkommens etwas vermessen wirkt. Aber klar, Torpedo Moskau kommt nicht alle Tage und hat sicherlich einen gewissen Ruf im Gepäck. Für Khimik, im Tabellenmittelfeld angekommener Aufsteiger und traditionell eher Drittligist, ist es sicherlich eins der größeren Spiele, ebenso für die örtliche Polizei.
Eine Stunde vor Beginn gehen wir rein. Angesichts des komplexen Kontrollablaufs ist das nicht so verkehrt. So genau bin ich noch nie kontrolliert worden und das gleich zweimal. Zu guter Letzt werde ich noch in einen Bus gebeten, um meine Schuhe auszuziehen. Als ich zu verstehen gebe, kein Russisch zu sprechen, bleibt mir das dann aber erspart. Drinnen. Die Hälfte der Ränge ist dauerhaft mit Werbeplanen abgedeckt. Gut 5.000 Plätze bleiben so verfügbar 3.500 werden heute belegt.
Es ist gut, so früh dran zu sein. Man bekommt doch einiges mit. Spannend, wer hier nach und nach so alles aufläuft. Auch sieht man wieder einmal, dass Ultra auch echt Arbeit heißt. Die ganzen Zaunfahnen ziehen einiges an Kletterei nach sich und die ZSKA-Aufkleber vom letzten Pokalspiel müssen erst einmal entfernt und überklebt werden. Irgendwann kommt eine Delegation mit einigen Polizeibeamten und sucht Banner, die sich gegen den unbeliebten Präsidenten Herrn Lukmanov richten. Die Ultras werden gedrängt, ein Banner zu entfalten und zu zeigen. Zum Vorschein kommt die Botschaft ‚Lukmanov unser Kapitän‘. Dagegen sei doch wohl nichts zu sagen! In der Tat scheint auch die Delegation hier keine Handhabe zu sehen. Auch über den lächerlich bunten Gockel, der das Plakat ziert steht anscheinend nichts in der Dienstanweisung.
Links von uns ist die halbvoll besetzte Haupttribüne. Im ersten Block der anderen Kurve stehen die knapp 100 Dust-Ultras. Im Gästeblock finden sich die etwa 800 Torpedo Fans ein. Der Support hier lässt sich trotz des sehr länglichen Blocks gut an. Schnell finden sich ein linker und ein rechter Teil für Wechselgesänge. Der Mitmachanteil ist hoch, so wie es sich für Auswärtsspiele gehört. Torpedo bedient sich nie eines Capos und ist ausdrücklich stolz auf darauf, dass jeder einen Gesang anstimmen kann. In der ohnehin schon für schlechte Luftqualität bekannten Stadt, nimmt man es dann mit den spielbegleitenden Aufforderungen, das Abbrennen von Pyrotechnik zu unterlassen auch nicht so genau.
Das Spiel selbst ist eher dürftig. Folgerichtig stellen zwei Elfmeter die Höhepunkte der ersten Halbzeit dar. Den ersten verwandelt Torpedo, den zweiten vergibt Khimik. Besser ist die zweite Halbzeit. Torpedo tritt deutlich souveräner auf, spielt Möglichkeiten heraus und bestätigt die gute Serie der vergangenen Wochen. Zwei weitere Treffer sorgen für Feierstimmung im Gästeblock. Mit dem Schlusspfiff marschiert eine Polizeikette auf, aber irgendwie spürt man, dass hier und heute nichts passieren wird.
Zeit rumkriegen im sauren Regen
Beim Verlassen des Stadions wird nochmal ausgebremst und die Menge entzerrt. In Deutschland ist ja eher das Bündeln, Einkesseln und Eskortieren gebräuchlich. Hier dagegen wird man der Rudelbildung vorbeugend, grüppchenweise rausgelassen. Auf dem Weg passiert man ein Spalier von Polizisten mit ausgedruckten Fotos, die anscheinend noch ein paar auffällig gewordene Besucher zu finden versuchen.
Es regnet. Toxischer Regen, wie Artems Freunde scherzen. Wir haben noch zwei Stunden bis zum Zug und suchen eine Kneipe. Die Hälfte der Zeit haben wir fast rum, als wir fündig werden. Es ist eine Art Sportsbar. An der Dekoration hier merkt man wieder einmal, wie gewichtig der englische Fußball im internationalen Bewusstsein ist und wie unbedeutend der deutsche. Artem bestellt uns schnell zwei Bier und ein Paket Pistazien, da wir schneller zum Zug müssen als die anderen. Die Bedienung stellt uns einen Teller mit genau 17 Pistazien hin. Ein Witz? Nein, nein. Es seien eben kleine Päckchen. Wir sind zu perplex, den Preis pro Stück zu überschlagen. Wir bestellen noch zwei Bier für den Weg und verabschieden uns zum Zug um 18.45 Uhr. Die anderen hier müssen noch bis 1.20 Uhr warten, allerdings macht der Laden um 23 Uhr dicht. Auswärtsfahrten sind eben nicht immer nur Spaß.
Ein Hauch Wildost im Bistrowagen
Unser Zug kommt aus Nowosibirsk und fährt bis nach Brest. Er gehört zur weißrussischen Flotte. Wir haben zwei obere Liegen in einem alten Großraumwaggon. Das Ehepaar unten lässt uns aber mit sitzen. Die sind tatsächlich schon seit drei Tagen hier in dem Zug unterwegs und in ihren abgetragenen Trainingsanzügen sehen sie aus, als seien sie Teil von ihm geworden. Auch vor uns uns liegen noch schlappe 6 ½ Stunden Fahrt. Schon nach einer Stunde müssen wir ausweichen, da die beiden sich ablegen. Wir finden eine freie Bank und öffnen ein weiteres Bier. Bereits beim nächsten Halt steigt ein gebrechlicher älterer Herr zu. Die Schaffnerin bittet uns, ihm die Bank zu überlassen, da er nicht in sein Hochbett klettern kann. Machen wir.
Letzte Zuflucht ist der Bistrowagen ein Stück weiter hinten. Der ist interessant, mehr wie ein Stehcafé-Kiosk, der das 20 jährige Jubiläum seiner letzten Renovierung feiert. Stilecht gibt es weißrussisches Bier zu – absurden, ach nein, gut – weißrussischen Preisen. Etwas seltsam. Der Zug ist vier Tage in Russland unterwegs und nur einen in Belarus selbst. Doch der Kioskier in seiner Kabine tippt jedes Mal aufs Neue einen Wechselkurs in den Taschenrechner. Artem mutmaßt, dass er sich so die Möglichkeit vorbehält auch mal in den Preisen zu variieren. Soll uns aber egal sein. Für uns ist das Bistro der Schalter von ‘Absackbier’ zu ‘Steilgehen’. Zu uns gesellen sich bald vier sehr junge Torpedo Ultras und wir unterhalten uns gut. Als das Bistro um 22 Uhr auch schon wieder schließt sind sie es, die uns auffangen. In ihrem Abteil seien zwei, die eh nicht schliefen und wir könnten mitkommen.
Gesagt getan. So sitzen wir dann zu acht in dem kleinen Abteil. Die beiden Weissrussen steigen obwohl völlig fussballfremd schnell in die Gespräche ein und es wird sehr kurzweilig. Die Youngsters zeigen mir auf dem Telefon die Ultra-Malereien ihrer Crew. Ich sage, dass ich in Moskau wenig davon gesehen hätte verglichen mit Kiew oder polnischen Städten und sie meinen, die meisten Sachen hätten dort nur die Lebensdauer von einem Tag. Manches werde gereinigt anderes von Dynamo oder ZSKA übermalt. Ich mag wie interessiert die Jungs sind. Zunächst sind es Hooliganfilme, Russisches Bier, Hardbass und Hip Hop, dann Ost- und Westdeutschland, Lukaschenko, Stalin, Hitler und irgendwann meint Artem wir klängen wie die beiden Trinker der Hinfahrt. Am Ostende der Stadt steigen die Jungs aus und es wird ruhiger. Aber sicher sind auch wir gleich zuhause. fg
Fussballkultour Links:
Unser Video zu dieser Fahrt
Unser Bericht Torpedo Moskau – Dynamo St. Petersburg
Weitere Links:
Artems Blog: groundhopping.ru
Soccerway zur 2. Russischen Liga
‘DUST’ – Fanseite Khimik Dserschinsk
Inoffizielle Torpedo Seite auf Englisch
Blacksmith Insitute: Liste der am meisten verschmutzen Orte der Erde
Wikipedia zu Dserschinsk
FAZ-Artikel zum ‘Sapsan’ Zug
Fotogalerie (zum Vergrößern klicken)