Gefühlter Süden
Kuban Krasnodar – Sokol Saratov
10.09.2016, FNL (2. russische Liga), Kuban Stadion, Endstand: 0:0
Ausbüchsen zum Fußball
Reisen war für mich immer eher mit Fortbewegen verbunden. Ich bringe wenig Ausdauer für das dreiwöchige Strandprogramm meiner Familie mit. Das Ausbüchsen zum Fußball reichert nicht zum ersten Mal den Urlaub an und sorgt für das kleine, Abwechslung bringende Abenteuer.
Von unserem Schwarzmeerurlaubsort Anapa geht mein Abstecher ins 250km entfernt gelegene Krasnodar, der Hauptstadt der Region Krasnodarski Krai, die für die Russen geografisch und emotional den Süden darstellt. Das Klima in Krasnodar entspricht dem von Venedig und verleiht dem Leben eine gewisse Leichtigkeit – ansonsten bekanntlich nicht unbedingt landesüblich.
In der Stadt Krasnodar sind zwei professionelle Fußballclubs beheimatet. Da ist zum einen der FK Kuban Krasnodar, ein zwar wenig erfolgreicher, aber geschichtsträchtiger Club, lange Zeit Aushängeschild der Stadt und der Region. Zum anderen ist da der Emporkömmling FK Krasnodar, keine 10 Jahre scheint er dennoch dem alteingesessenen Club bereits sportlich zu enteilen. Natürlich geht eine solche Koexistenz nicht unbedingt in Eintracht von statten. Anlässlich unseres Besuchs haben wir versucht, diese Konstellation besser zu verstehen.
Alteingesessen: FK Kuban Krasnodar
Gegründet 1928 ist der FK Kuban einer der ältesten Fußballclubs in Russland. Er verbrachte die Jahre zwischen dem 2. Weltkrieg und der Auflösung der Sowjetunion mindestens im semiprofessionellen Bereich, mit einigen Abschnitten in der höchsten UdSSR Spielklasse.
1992, in der 1. Saison der neuen russischen Ligen spielte Kuban erstklassig, stieg aber gleich ab. Es folgten Fahrstuhljahre die ihresgleichen suchen – SIEBEN Ligawechsel in den Jahren 2003-2010. In der Saison 2012/13 wurde der fünfte Tabellenplatz belegt, der immerhin bis in die Gruppenphase der Europa League führte. 2015 stand Kuban auch im nationalen Pokalfinale, das aber verloren ging. Am Ende der Saison 2015/16 folgte der Abstieg.
Gegenwärtig findet sich der Club auf Platz 17 der 2. Liga wieder und klammert sich fest, um dem drohenden freien Fall zu entgehen. Der sportliche Niedergang wurde von dramatischen strukturellen Problemen begleitet. Der größte Anteilseigner war in Ungereimtheiten bei Transferzahlungen verstrickt und zog sich zurück. Gehälterzahlungen blieben aus und die Regionalverwaltung schickte sich an, die Anteile zu erwerben um den Club aufzufangen. Die Gunst der Anhängerschaft schrumpfte in Folge der Veruntreuungen und Querelen rund um den traditionell gut unterstützten Club merklich zusammen. Im Schnitt 4000 Zuschauer finden in der laufende Saison den Weg ins Kuban Stadion. Wähnte man sich noch vor drei Jahren startklar für eine rosige Zukunft, ist der Club aktuell als gefährdet einzustufen. Zeitgleich zu dieser Entwicklung hat sich in der eigenen Stadt ein Konkurrent entwickelt, der in die Spitzengruppe des russischen Fußballs drängt.
Senkrechtstarter: FK Krasnodar
Den 88 Jahren Geschichte von Kuban stehen ganze 8 Jahre beim FK gegenüber. Der FK Krasnodar wurde erst 2008 vom Milliardär Sergei Galitzki gegründet. Der Eigentümer der Einzelhandelskette Magnit ist aufgrund seines großen sozialen Engagaments als durchaus beliebt einzustufen. Kritisch zu betrachten ist allerdings, dass beide Aufstiege des Clubs nicht sportlicher Natur waren. Seine erste und drittklassige Saison 2008/09 beendete der FK als Tabellendritter. Zum Aufstieg aber berechtigte lediglich der Staffelsieg. Finanzielle Schwierigkeiten bei anderen Clubs gelten als Grund für Krasnodars Sprung in die 2. Liga. Hier darf man schon mal die Augenbraue heben.
Richtig haarsträubend wurde es aber bereits ein Jahr später. Der FK beendete die Zweitligasaison als Fünfter und wurde erneut an der sportlichen Realität vorbei von Verbandsseite direkt in die Premier Liga gehievt, weil anderen Clubs die Liquidität abgesprochen wurde. Seit seiner ersten Saison in der obersten Spielklasse 2011/12, ist der FK dort vertreten und konnte sich in den vergangenen drei Saisons jeweils für die Europa League qualifizieren. Wolfsburg und Dortmund waren hier zu Gast, Schalke wird in der laufenden Saison folgen.
Sergei Galitzki investiert kräftig. Noch in diesem Jahr wird das eigene 200 Mio€ teure Stadion fertiggestellt, dessen Architektur ein echtes Statment für den Anspruch des Clubs ist (s.U. Link zum Bericht). Der FK wird also auch bald das Stadion des Lokalrivalen hinter sich lassen. Parallel zum neuen ‘Krasnodar Stadium’ ist eine Akademie entstanden, die in Russland Maßstäbe setzt. Der FK ist gerüstet für die Zukunft und wird in absehbarer Zeit auch nach Titeln greifen.
Umschauen vor Ort
Das rasante Aufkommen des FK aus dem Nichts in den europäischen Fußball innerhalb von nur fünf Jahren wurde in der Ferne kaum wahrgenommen. Zu kurz war vielleicht auch die Geschichte, dieses einzigen Premier Liga Stadtderbies außerhalb Moskaus. So fiel uns im September 2014 auf, dass der Internetsender ‘beINSPORTS’ das Spiel des FK Krasnodar gegen OSC Lille komplett mit dem Wappen von Kuban übertrug. Selbst in der Spielanalyse nach Abpfiff bezog sich das englische Fachpersonal immer auf ‘Kuban’.
In Krasnodar gilt es also beiden Clubs nachzuspüren. Losgeist von den familiären Verpflichtungen steht für mich der Wochendausflug zum Spiel des FK Kuban gegen Sokol Saratov an. Der Minibus bringt mich an diesem Samstagmorgen zum Busbahnhof in Anapa. Allein das Minibusfahren kann schon ein Erlebnis sein, wenn das Fahrgeld der Zugestiegenen durch eine Vielzahl von Händen durch den vollen Bus bis zum Fahrer gereicht wird, oft mit dem Hinweis ‘Für Zwei’ o.ä. Das Wechselgeld findet auf gleichem Weg zurück.
In Anapa startet meine 250km Reise mit dem Fernbus. Im Prinzip käuft es wie das deutsche Fernbuswesen, nur mit mehr Gebrauchsspuren in den Bussen. Das Interieur mit üppigen Gardinen und Gebammel hat schon beinahe etwas orientalisches. Die Fenster sind etwas zugig gelagert, so dass umsichtige Passagieren mit Kaugummi und Taschentüchern nachgedichtet haben. Wir fahren nordöstlich aus Anapa raus und streifen die westlichsten Kaukasusausläufer. Mein Lesestoff bleibt unberührt. Der Blick aus dem Fenster erhält den Vorzug. Anfangs geht es durch die Weingüter ‘Vinothekas’ genannt und später durch Obstanbaugebiete und kleine Städtchen. Boden und Klima geben viel her in dieser Region. Meist mag ich Weingegenden. Landschaft, Gebäude und Menschen stellen eine harmonische und gewachsene Einheit dar, die sorgsam und bewusst gepflegt wird – eine Kulturlandschaft. Soweit zumindest in Frankreich. Dies aber ist Russland. Zwar scheinen die Rebstöcke auch hier gut frisiert, aber eine Ecke weiter kracht eben doch das Asphaltmischwerk in die Landschaft und alles ist einfach ganz schön trostlos zusammengebrettert.
Der Verkehr kommt ein wenig ins stocken als wir uns Krasnodar nähern. Wir überqueren den Fluss Kuban und biegen mit etwas Verspätung die Straße zum Bahnhof und Busbahnhof ein. Zwei Straßen weiter habe ich ein Zimmer reserviert. Von dem kleinen Hotel ist es wiederum nur eine Viertelstunde bis zum Kuban Stadion. Dort treffe ich nach einem ausgedehnten Nachmittagsspaziergang ein.
Grün und Gelb
Das zentral gelegene Stadion ist in eine Parkanlage eingebettet. In der Umgebung sind zahlreiche Graffitis der Kuban Anhängerschaft zu finden. Auffällig ist, die Benutzung des Kürzels ‘FCKE’. Nach etwas Grübeln reime ich mir das als ‘Football Club Kuban Ekaterinodar’ zusammen. Man scheint sich auf den Stadtnamen vor der Machtübernahme durch die Sowjets im Jahr 1920 zu beziehen.
Es geht hier entspannt zu, vereinzelte Pilger in Grün und Gelb, aber das große Getöse bleibt aus. Die Nuss- und Sonnenblumenkernverkäufer passen in den Sommerabend, der sich tatsächlich nach ‘Süden’ anfühlt. Das Stadion selbst meldet sich dann mit seinen markanten und großzügig dimensionierten Flutlichtmasten zu Wort. Auch die beiden unüberdachten Seitentribünen gehen stark in die Höhe. Tickets und Platz gibt’s noch reichlich. Gut 5.000 finden sich in dem 35.000 Zuschauer fassenden Rund ein. Ich klettere die Tribüne ganz hinauf. Es ist ein großartiger Ort. Über beiden Kurven sieht man Stadt. Unter dem offenen Abendhimmel fahren die Züge in den Hauptbahnhof ein. Es fühlt sich beinahe an als sei man auf einem Hügel inmitten der Stadt. Im Winter mag es hier kräftig ziehen, aber hier und heute, in dieser milden Sommernacht ist es der perfekter Ort, um aus der Sitzschale heraus in die Ferne zu träumen.
Die Marschmusik aus den Lautsprechern holt mich wieder zurück. Die Mannschaften kommen. Zu Gast ist ‘Sokol Saratov’. Ich bin noch nie in Saratov gewesen, aber meine Frau hat ihre Studienjahre dort verbracht. Ob ich ansonsten schon einmal von den meist eher dritt- als zweitklassigen Sokol, zu deutsch Falke, gehört hätte, kann ich gar nicht sagen. Heute haben 12 Gästefans die 1000km Anreise aus der Wolgastadt auf sich genommen.
Im Bereich der anderen Kurve haben Kubans Ultrgruppierungen Position bezogen. Wie schon im Mai bei Arsenal Tula, wählt auch diese Gruppe scheinbar bewusst die Distanz zum übrigen Publikum. In der ansonsten blanken Kurve hat man sicherlich einen größeren Aktionsspielraum. Da nimmt man auch den Weg aufs Dixi in kauf. Kuban spielt in markantem Grüngelb. Von der eher seltenen Kombination geht auch hier im Stadion viel Prägnanz aus. Mit Norwich City teilt man sich neben diesen Farben auch den Spitznamen ‘Kanarien’. Weiterhin werden die Anhänger ‘Kröten’ oder auch ‘Kubantsies’ genannt. In der zu 2/3 leeren Kurve stehen die Ultras sehr kompakt auf ihren Sitzschalen und schlagen sich wacker im großen Rund.
Ein 0:0 der schlechteren Sorte
Unter mir auf der Haupttribüne: Jedermann. Der Vater und sein kleiner Sohn, die abwinkenden Kumpels, der ältere Herr mit Schiebermütze und Sitzkissen … völlig geerdete Menschen, die einen Club wie diesen tragen. Sie alle fiebern und leiden mit, weil diesem Club heute einfach kein Tor gelingen will. Kuban spielt nach Vorne, häufig aber zu fahrig und sehr schlecht abgestimmt. Von Sokol kommt gar nix. In der Schlussphase häufen sich die Aufreger, Kuban scheitert ein ums andere mal knapp und Sokol vergibt seine einzige gute Möglichkeit. Der Unparteiische rückt zu oft in den Mittelpunkt und die kollektive Empörung bauscht sich auf. Märtyrer: Kubans Trainer wird auf die Tribüne verbannt. Zeitspiel beim Torwart, die Wut, die ihm entgegenschlägt, eine letzte Ecke, drüber, dann der Pfiff. Man hat das schon viele Male gesehen: Das Drecksspiel, die Ernüchterung, den grimmigen Exodus gesenkter Köpfe. Es ist Fußball in Reinkultur.
Unser Video vom Spiel in Krasnodar.
Was bleibt ist die Sommernacht. Ich spaziere ein wenig umher. Viele Stadionbesucher scheinen zu Fuß unterwegs zu sein. In der Bahnhofsgegend gibt’s noch Bierverkauf. Das ist ungewöhnlich für Russland. Hier kommt zusammen, was der Tag übrig gelassen hat. Viele Leute haben anscheinend zu viel Sonne abbekommen. Der ‘gefühlte Süden’ wird nun zur Torkelmeile. Das sind die Momente, wo auch der eigene Tag kippen kann. Irgendwer will irgendwas, lallt dich voll und du kannst nicht antworten. Sich outen als der Fremde? Oder abweisend auf Distanz gehen? Ich halte es immer mit nicht anhalten, nicht zögern, nicht reagieren. Die meisten die hier noch unterwegs sind, sind gedanklich sehr langsam. Wenn man ihnen keine Zeit gibt, einen selbst als Gelegenheit auszumachen, fährt man ganz gut. Mir reicht dieser Eindruck. Ein Absackerbier im Hotel soll genügen, um den gelungenen Tag zu beschließen.
Fotogalerie Kuban Stadion (zum Vergrößern klicken)
Stadtrundgang
Wie meistens wenn ich noch etwas Zeit habe, mache ich auch in Krasnodar noch richtig Kilometer. Ich mag es hier. Die Stadt eignet sich wunderbar, um der Nase nach zu laufen. Im Zentrum sind die Straßen durchgerastert, wie man es aus Nordamerika kennt. Dazu gibt es mit der Krasnaya Uliza eine Prachtstraße, die das Selbstbewusstsein der gut darstehenden Stadt widerspiegelt. Die Bebauung bildet die Epochen ab. Von Jugendstil, über Sowjet-Klassiker bis zu jüngeren Bürogebäuden. Auffallend ist aber, das sie alle ganz gut in Schuss sind. Auch der Außenraum ist sehr aufgeräumt.
Östlich des Stadtkerns wird es merklich flacher und nahezu häuschenhaft. Auch das könnte Nordamerika sein, ist aber enger in der Straßenführung. An alt gepflasterten Straßen, ungleichen Gehwegen und rustikale Straßenbahnstrecken reihen sich kleine Holzhäuser auf. Dazwischen Gärten, Pfade, Obstbäume – hier ist der Ausdruck ‘Lebensraum’ wirklich zutreffend. Unübersehbar ist an diesem Wochenende auch die militärische Prägung der Stadt. Hier haben seit über 200 Jahren die Kuban Kosaken ihre Heimat. An diesem Sonntagmorgen halten etliche Züge ihren Frühsport ab, als ich mir die Parks am Ufer des Kuban ansehe. Starker Kontrast dazu, der Gorki Park, der heute in französische Atmosphäre eingehüllt ist und durch den junge Leute flanieren als sei dies Renoirs Moulin de la Galette. Dazu haben Pariser Modelabels Pavillons aufgestellt. Krasnodar hat viele schöne Seiten. Ich freue mich einige davon gesehen zu haben. fg
Fotogalerie Krasnodar (zum Vergrößern klicken)
Nachwort
Natürlich rein zufällig führten die Spaziergänge nicht nur in die Parks. Auch das fast fertigestellte Krasnodar Stadion des Emporkömmlings FK geriet vor meine Linse. Auch die Kinderstube des Clubs, das altgediente Stadion Trud, blieb nicht unbesucht. Hier mehr dazu:
Weitere Stationen dieser Reise:
Link: Klassischer Tempel – Krasnodar Stadion (FK Krasnodar)
Link: Ehrwürdige Sowjetsportstätte – Das Stadion Trud
Link: Unser Startort - Das Spartak Stadion in Anapa
Link: Graffiti Galerie - Kuban