Shinnik Jaroslawl (RUS)

 

Ausnahmezustand

 

Badge-Shinnik-small  Shinnik Jaroslawl – Spartak Moskau  Badge-Spartak-small

30.10.2013, Russischer Pokal, Stadion Shinnik, Endstand: 0:1

Wir fahren zu Fußballspielen, gucken uns dort um mit großem Augenmerk auf das Drumherum – Reise, Ort, lokale Fankultur – und berichten darüber. So sollte es auch diesmal sein. Russlands größter Club trat beim Underdog in einer der schönsten Städte des Landes an.

Bei diesem Spiel kam es zu Ausschreitungen, wie man sie in ihrer Heftigkeit glücklicherweise selten innerhalb eines Stadions zu sehen bekommt. Es gab derbe Bilder, die um die Welt gingen. Bilder, scheinbar viel sagend, doch allein gelassen oft nicht stichhaltig. Wir möchten deshalb den Text nutzen, an dessen zurückgelehnte Ruhe wir glauben, um unsere Eindrücke zu schildern und angesichts des Gesehenen und Gehörten etwas weiter auszuholen, als wir es sonst tun.

Auch das ‘wir’ sei an dieser Stelle relativiert, da ich an besagtem Tag allein unterwegs war. Von daher ist auch die Einschätzung als subjektiv zu betrachten. Die wiedergegebenen Aussagen sind frei, jedoch maßvoll ins Deutsche übersetzt aus dem, was die oft wenigen gemeinsamen Worte auf Englisch, Russisch oder Deutsch hergaben.

Ein Großteil des hier ausgeführten ist in unserem Video zu sehen.

 

Auf nach Jaroslawl

Jaroslawl Ich bin für einige Wochen in Moskau. Ich habe ZSKA gesehen, Lokomotiv und auch Torpedo. Der größte und geschichtsträchtigste Club des Landes aber ist Spartak. Spartak ist der stets weniger privilegierte, doch umso mehr geliebte Volksklub mit vielen Anhängern im ganzen Land. Das war zu Sowjetzeiten so und ist auch heute noch der Fall.

Passend zum Fehlen eines staatlichen Rückhalts, wie dem Innenministerium bei Dynamo Moskau oder der Armee bei ZSKA, besaß Spartak nie ein eigenes Stadion und wurde herumgereicht. Dennoch kann der Club nach Dynamo Kiew die meisten Sowjetmeisterschaften (12) und die meisten russischen Ligatitel vorweisen (9). Aber weiterhin ist der Club heimatlos und trägt seine Heimspiele in dieser Saison im fremden ‘Stadion Lokomotiv’ aus. Dort war ich schon. Der Gedanke, Spartak lieber auswärts abzupassen, drängt sich auf und die Pokalansetzung bei Shinnik Jaroslawl ins Bild.

Zum einen ist Jaroslawl für russische Verhältnisse ein Katzensprung. Nur gut vier Stunden dauert die Bahnfahrt dorthin. Die Moskauer sprechen bei solch geringen Entfernungen lediglich von einem ‘Gastspiel’ und nicht von einem ‘Auswärtsspiel’. Zum anderen verspricht Jaroslawl eine sehr ansehnliche, geschichtsträchtige Stadt zu sein, obendrein an der Wolga gelegen. Auch Shinnik ist kein ganz unbeschriebenes Blatt. Der Club pendelte seit der Jahrhundertwende zwischen Premjer-Liga und der zweiten Spielklasse, wo er auch gegenwärtig spielt. Kurzfristig fasse ich den Entschluss, für zwei Tage dort hin zu fahren.

Bahnreise

Am Morgen des Spieltages nehme ich die U-Bahn zur Station ‘Komsomolskaja’. Hier ist Moskaus ‘Platz der drei Bahnhöfe’: Kasanski Voksal, Leningradsky Voksal und eben der Jaroslavskij Voksal. Wie in London oder Paris hat Moskau mehrere Fernbahnhöfe für die einzelnen Richtungen, die durch eine Ringbahn verbunden sind. Arne verriet mir ein Kuriosum: Das russische Wort ‘Voksal’ für Bahnhof entstammt dem Londoner Stadtteil ‚Vauxhall‘ mit seiner altehrwürdigen Waterloo Station. ‘Terry meets Julie, Waterloo Station…’, genau, genau: ‘The Kinks’.

Jaroslawl Am Jaroslawler Bahnhof sehe ich vereinzelt schon die Spartak-Farben Rot und Weiß. Anders als bei uns kann man in Russland nur in den Waggon einsteigen, für den man eine Platzkarte hat. Jeder Waggon hat eine Schaffnerin, die beim Einstieg die Karten kontrolliert. Vereinzelt machen das auch Männer. Zu stehen wird den Kunden hier nicht zugemutet. Stattdessen hat man bei den Fernzügen – dieser hier fährt bis Archangelsk – Klappbänke, auf denen man tagsüber unten sitzt und dann nachts verteilt schläft.

In der Regel geht es sehr gesellig zu in den Zügen. Nach allem, was ich auf Reisen erlebt habe, stellt aber eher Deutschland mit seiner großen Zurückhaltung gegenüber den Mitreisenden die Ausnahme dar. Wobei es hinsichtlich der Aufgeschlossenheit ja auch bei uns interessante regionale Unterschiede gibt. Im Ruhrgebiet würde man sich diesen Schuh wohl nicht anziehen. Unterhält man sich aber Sonntagsabends im ICE von Braunschweig nach Berlin, fängt man gern Blicke stechender Skepsis, die aus der Schießscharte zwischen Oberkante Zeitung und Unterkante runzliger Stirn abgefeuert werden.

Ich steige früh ein und bald setzen sich ein paar Spartak-Fans dazu. Ich gebe zu verstehen, dass ich nur ganz wenig Russisch spreche und aus Deutschland käme. Mein Gegenüber stellt sich als Slava vor und spricht seinerseits ein bisschen Deutsch. Wir spielen uns die Worte zu. Das funktioniert etwa so:

Futbol – Spartak Moskva– Fans – sehr viele – Match – heute.’ Weiß ich doch: ‘Cup – Shinnik – Ya tosche.’ Und dazu geht der Daumen hoch. Findet er gut und seine Freunde auch. Allerseits anerkennendes Nicken, als er es übersetzt. Du Fanat Spartak? Njet, Ya Fanat Futbol. Futbol Blog, Internet, sage ich und der Tisch wird zur Tastatur. Wir unterhalten uns sehr gut und schnell stell sich Sympathie ein. Slava verkauft mir dann noch für 200 Rubel ein Ticket für den Gästeblock. Auch das ist somit gesichert. Aus seiner Tasche zieht er einen Bengalo. ‚Fireshow‘ sagt er in freudiger Erwartung. Jaroslawl

Warum sind da so viele Türken?

Die Jungs schenken mir Bier ein, bald Whisky-Cola und etwas süßlich fruchtiges, dass Baltika heißt. Sie teilen ihre Wegzehrung mit mir. Es wird eine kurzweilige Fahrt. Mein Buch bleibt ungelesen in der Tasche. Es gibt viele Geschichten. Basel haben sie besucht und Leverkusen, Köln, Düsseldorf und das Berliner Olympiastadion. Die deutsche Wurst haben sie genossen und in das deutsche Bier sind sie alle verliebt. Deutschland sei ein schönes Land. Nur, Berlin, Köln… warum sind da so viele Türken? Ist ja schlimm.

Das sind die Momente in denen die Ohren Alarm schlagen und den Mund bremsen, um den Verstand vorzulassen. Es ist nicht so leicht in einfachsten Worten und ohne Überheblichkeit diese Dinge geradezurücken. Mein Blick wechselt zwischen den Gesichtern. Ich schreibe ’1950s’ und einen Pfeil auf einen Zettel und sage Deutschland hätte Hilfe gebraucht und darum gebeten. Die Türken sind gute Menschen, die kamen, um uns zu helfen. Einer nickt zaghaft. Okay, gut seien vielleicht die, die in Deutschland sind. Und dann erzählt er in erstaunlicher Ruhe über den Kaukasus und die Menschen von dort, die Wilde seien, die da kulturlos in ihren Tälern hausen. Ich suche die sachliche Ebene und versuche zu verstehen zu geben, dass es normal, sei, dass ländliche Bergregionen nicht die kulturellen Eliten hervorbrächten. Er versucht mich rüber zu ziehen, nimmt mein Portemonnaie vom Tisch und sagt, würde ich hier mit Anzhi (Makhachkala) fahren, wäre das weg und nur wenn ich Glück hätte, käme ich heil aus dem Zug. Ich bleibe gelassen und sage, dass ich in der Tat zum Europa-League Spiel Anzhi gegen Tromsö gehen wollte, dass nahe Moskau ausgetragen wurde. Tickets waren aber nur über den Fanclub und mit Ausweis zu haben und nicht für mich. Nun triumphiert er. Natürlich gäbe es keine Tickets. Wenn es die gäbe würden sie hingehen und gegen Anzhi kämpfen.

Es ist schwierig. Da ist ein tiefer Graben zwischen den Russen in dieser Region und den Menschen aus dem Kaukasus, der keineswegs nur die Fankurven trennt. Ich habe das schon mehrfach gehört. Gebildete russische Frauen, die den Umstieg in Komsomolskaja meiden, weil dort zu viele Immigranten seien. Männer, die Skepsis im Blick zur Schau tragen und vielsagend verstummen, wenn man an einer Gruppe dunkelhaariger Männer mit abgetragenen Jacken vorbeigeht. Ich dagegen hab‘s leicht hier. Deutsche mag man und blond ist auch richtig. Ich steige auch in Komsomolskaja um und mache nicht auf verstimmt, wenn die Menschen, die mehr als alles andere einfach arm sind, da in der Ecke stehen. Aber ich bin auch nicht der, der meint hier alle belehren zu müssen. Dazu ist es dann auch zu wenig mein Alltag, dazu bin ich zu weit draußen.

Gold Season

Jaroslawl Wir trinken. Trotz der zuvor harten Gesprächsrichtung des einen, sind es nette Jungs. Sie sind dankbar für den Austausch. Sie suchen ihn und sie akzeptieren meine Sicht der Dinge. Und in ihrer Gastfreundschaft mir gegenüber sind sie wie die meisten Russen großartig. Ich mag diese Momente, in denen der Fußball es vermag, zu einen und Brücken zu schlagen. Und so geht es dann auch wieder um Spartak, um Eintracht, um Marseille oder Lviv. Mit dabei ist nun auch ein Maskottchen. Slava deutet auf dessen goldenen Ohrring und berichtet, der Plüschochse im Spartak-Trikot könne eine ‘Gold Season’ vorweisen. Eine Gold-Season ist eine Spielzeit in der man alle Pflichtspiele seines Clubs gesehen hat. Von den Jungs hat das keiner geschafft. Aber das Maskottchen hier schon. Das wurde rumgereicht und ist Spartak nicht von der Seite gewichen. Über den Vormittag schafft es rotationsmäßig jeder von denen, sich nochmal oben abzulegen. Nur ich irgendwie nicht. Das merke ich jetzt beim Aussteigen, als doch ein gewisser Schwung in meinen Schritten liegt.

Einlass und Engpass

Auf dem Bahnsteig verabschiede ich mich und danke für die gute Versorgung. Es sind noch gut vier Stunden bis zum Spiel und ich steuere das ‘Good Luck’ Hostel an. Kurze Pause. Es ist schon seltsam, so mitten am Tag auf einmal auszunüchtern. Ich empfehle es nicht. Nach einem Nachmittagsessen gehe ich dann über ein paar Schlenker zum Stadion. Aus Moskau bin ich die vielen Ultra-Aufkleber gewohnt. Aber Jaroslawl ist förmlich zugepflastert mit Spartak-Stickern. Es sind tatsächlich tausende, überall künden sie von einer Invasion. In den Straßen sieht man viele Spartak Fans, vereinzelt Shinnik Fans und Leute ohne Farben. Das Nebeneinander scheint glatt zu verlaufen.

Jaroslawl Ich bin eine Dreiviertelstunde vor Anpfiff am Stadion. Beim Abbiegen von der Hauptstraße gibt es die erste, sehr flüchtige Kontrolle. In dem Moment denke ich, dass die ja früh anfangen, ahne aber nicht, dass es das einzige Abtasten bleiben sollte. Stattdessen aber gibt es Engpässe. Die Polizei hat auf dem Weg zum Stadioneingang die Straße gesperrt, vor der sich die Menge nun staut. Da der Anpfiff nicht mehr allzu fern ist, wächst die Nervosität spürbar. Irgendwann wird ein Durchlass geöffnet und die Menge schiebt sich hastig und hektisch hindurch. Nächster Halt Stadiontor. Hier nimmt der Druck zu. Das vorherige Rückhaltebecken war durchaus richtig. Zu eng scheint nun der einzelne Durchfluss auf das Gelände. Manche verlieren hier schon die Nerven, aber es gibt auch die, die es einfach geil finden, Schwachköpfe, die grölend von Hinten andrücken, als sei alles eine Riesen-Party. Am Rand klettern Leute reihenweise über die Zäune. Als ich durchgerutscht bin, gehen oben auf der Tribüne die Bengalos an. Das Spiel beginnt. Tausende aber sind noch weit davon entfernt, etwas davon zu sehen und drängen wie ich auf das einzige Nadelöhr zum Block.

Was zuvor vielleicht noch kurios war, wird nun dramatisch. Das Geschiebe ist verzweifelt. Ich sehe, wie einer sich die 15m Hohe Tribünenrückwand an einer runtergelassenen Schalkette hochzieht (anfangs des Videos zu sehen). Es ist unglaublich. Aber ich bin in erster Linie darauf konzentriert, Halt zu finden und meine Schuhe anzubehalten, weil sich die Füße da unten stapeln. Der Druck von hinten ist enorm, aber irgendwann weicht er einem Sog von vorn und man treibt schnell auf die Stahlhelmreihe zu. Jetzt gilt es oben zu bleiben, nicht zu stolpern und nicht auf die Barriere zu krachen, sondern die Lücke zu treffen. Wie ein Boot durch die Stromschnellen vor einem Brückenpfeiler, schaffe ich es in die Lücke und laufe, getrieben von der Menge durch einen Spalier von Polizisten in den Block. Eintrittskarten werden nirgends kontrolliert.

Es ist ein kurioser Kontrast. Man steht auf einmal fast sportplatzhaft an der Laufbahnbrüstung und schaut wie eine Ecke reingeflankt wird. Man kann sich weitläufig frei bewegen. Ich habe eine Kurvenkarte, entscheide mich aber für den Weg nach links, auf die ruhiger wirkende Gegengerade.

Shinnik Stadion

Jaroslawl Es ist seltsam für mich. Das Spiel ist schon voll im Gang, aber ich muss noch alles sortieren. Gästeblock, Homeend, Stadion, Spielstand, Support, Polizei, Platznachbarn. Normalerweise kommt so etwas ja langsam zusammen.

Das Spiel selbst ist schwach. Es fehlt auf beiden Seiten an Struktur. Auch Torchancen gibt es kaum. Interessant ist die Kulisse. Rund um das Spielfeld sind in enormer Anzahl Einsatzkräfte aufgereiht. Ausgestattet mit sehr einfachen Schilden und beinahe archaisch anmutenden Helmen, wirken sie wie Hilfskräfte oder Reservisten auf mich. Vor der Spartak-Kurve sind die Kräfte verstärkt und scheinen besser ausgerüstet.

Spartak hat richtig viele Leute hier. Die gesamte Zuschauerzahl wird mit 17.500 beziffert. Knapp über die Hälfte davon sehe ich bei Spartak. Der Support lässt sich über die Breite schwer organisieren. Die Wechselgesänge zwischen Kurve und Gegengerade kommen aber sehr entschlossen. Shinnik läuft ebenfalls in Stereo und hat links und rechts der Heimkurve zwei Impulsbereiche. Der Support dort wirkt koordinierter. Den Einlauf und die angekündigte ‚Fireshow‘ habe ich wie gesagt verpasst. Die erste Halbzeit bleibt in ihrem weiteren Verlauf ruhig.

Schlüsselszene

Zu Beginn der zweiten Hälfte wird erneut einiges an Feuerwerk abgebrannt und dabei auch in Richtung Spielfeld und Polizei geschossen. Die entscheidende Szene spielt sich allerdings etwa 10 Minuten später ab. Aus dem Shinnik-Block klettert ein Mann über den Zaun und läuft mittig über das ganze Spielfeld. Zuerst wirkt es, als würde er nur den Max machen. Dann läuft er auf die Gästekurve zu. Richtig schäbig: Fast beiläufig macht er vor Shinniks Rechtsverteidiger ‘Alli’ N’Dri, der bereits sechs Saisons für den eigenen Club spielt, irgendeine plumpe Affengeste. Einige um mich fühlen sich dadurch unterhalten und quittieren es mit Lachen. Auf dem weiteren Weg Richtung Gästeblock meine ich dann noch eine Andeutung dessen zu sehen, was Paolo di Canio wohl einen römischen Gruß nennen würde.

Jaroslawl Der Mann läuft dann vor eine Bande und verarscht einen einzelnen Ordner der ziemlich hilflos dahinter steht. Spätestens hier wäre er anderenorts wohl gestellt worden. Es passiert aber gar nichts. Völlige Untätigkeit aller Anwesenden. Deeskalation? Der Mann selbst deutet schließlich an, dass auch er genug habe und hebt sich ergebend die Arme, als er um die Bande herumgeht. Dort ist immer noch der Ordner allein gegen den Mann, während sein Kollege – Marke ‘Hab ja keinen Befehl’ – wie auch die Polizei seinen Posten hält und was auch immer bewacht. Ich verstehe es nicht. Vielleicht wollte man hier das Bild ‚Zwei gegen Einen‘ vermeiden, das schnell Unmut heraufbeschwört.

Natürlich entwischt der Komiker erneut und will ein paar Meter weiter zwischen der Polizeireihe hindurch über die Bande klettern, wobei er flüchtig beim Publikum um Unterstützung wirbt. Diese kommt als die Polizisten versuchen ihn festzusetzen. Sofort finden sich genug Hände, um den Mann zu befreien und auf die Tribüne zu ziehen. Ein Offizier kommt hinzu und versucht die Lage zu beruhigen und es scheint auch, als würden alle in diesem gemäßigten Bereich ihren Platz wieder einnehmen und mit dem Ergebnis zufrieden sein.

Drunter und drüber

Jaroslawl Als mein Blick denen der anderen nach rechts folgt, ist klar, dass hier gar nix erledigt ist. Aus der Kurve kommt ein ganzes Pulk von Freiwilligen angerannt, die anscheinend meinen ihre Hilfe werde benötigt. Es sind Szenen wie aus dem Asterix-Comic, wo der wüste Mob in die Schilderformation rennt. Fäuste und Helme fliegen durch die Luft.

Die Wanderung beginnt. Die Mannschaften verschwinden in die Kabine, die Zuschauer suchen sichere Plätze oder eben das Getümmel. Auch ich klettere etwas weiter weg. Unten geht es noch eine ganze Weile weiter. Schnell hat das Ganze nichts mehr mit Affekt zu tun. Hier sind jetzt gestandene Hooligans am Werk, die auf ihren Moment gewartet haben. Durch den Blockzugang kommen weitere Einsatzkräfte in den Innenraum, wobei sie ungünstig durch den Block hindurch müssen und dabei von beiden Seiten hart angegangen werden. Die Polizei wahrt mit extremer Vorsicht ihre Formation im Bereich hinter dem Tor. Die Laufbahn wird den Hooligans überlassen. Als die fliegenden Sitze überhand nehmen, setzt die Polizei einen Wasserwerfer gegen die entsprechenden Bereiche ein. Tatsächlich ist nun viel Show dabei. Einzelne und Gruppierungen wollen sich hervortun und kosten den Rausch der eigenen Stärke aus. Die brutalsten Szenen aber sind überstanden.

Erst nach 15 Minuten lässt der Aufruhr nach. Zu erkennen sind mehr und mehr beschwichtigende Kräfte. Eine Spartak-Security ist da und anscheinend Fanbeauftragte oder sonstige Besonnene, die gefährliche Schwerstarbeit leisten, um alle wieder runter zu bringen.

Durchatmen

Jaroslawl Das Publikum nimmt es nun relativ gelassen. Die Spartak-Kurve weist erhebliche Lücken auf. Das Heimpublikum scheint weitgehend komplett. Sogar die Welle wird nun von den Shinnik-Fans initiiert und geht durch das ganze Stadion. Jaroslawl empört sich keineswegs. Um mich herum wir nun ‘Futbol, Futbol…’ skandiert. Nach einer etwas halbstündigen Unterbrechung kommen die Mannschaften zurück. Shinnik gibt einen wirklich dummen Elfmeter her, der sie das Spiel kostet. Es bleibt ein mieser Kick, den ich aber nur noch wie durch einen Schleier verfolge. Irgendwie will hier doch jeder nur nach Hause. Auch mein Blick sucht immer häufiger den Ausgangsbereich, wo es sich aber tatsächlich beruhigt zu haben scheint.

Der Weg nach Draußen ist seltsam. Kids posieren vor den Sitz-Trümmern oder der Wand aus Polizisten, die dort immer noch wie angewurzelt ausharren. Es ist eine seltsame Ausgelassenheit, noch beschwipst vom verspürten Ausnahmezustand und doch befreit, dass alles vorbei ist und man nun einfach nach Hause kann. Draußen ist alles ruhig. Alle gehen frei ihren Weg. Keine Gruppen, kein Gesang, keine Rivalität, keine Anfeindungen, keine Blockaden, keine Eskortierungen. Es wirkt als haben einfach alle genug.

Rückblickend

Ich selbst habe nur vereinzelte Medienberichte auf Deutsch gelesen. Ziemlich pauschal war von Übergriffen der gegnerischen Fanlager und gegen die Einsatzkräfte die Rede. Das ist immer eine schnelle Erklärung: A und B mögen sich nicht und attackieren sich deswegen. Gut, aufklären kann ich’s auch nicht, aber ich habe nichts gesehen, was gegen Shinnik ging oder gar von Shinnik ausging, ausgenommen der auf den Platz laufende Fan. Vielleicht war da etwas in der verpassten Anfangsphase, aber ich glaube es eigentlich nicht. Ich kann auch nicht genau umfassen, was hier ausschlaggebend war, aber ich denke es ist vielschichtiger und diffuser als das gängige Muster zweier Streithähne.

img_8398 Eine Stimme sagte, es sei absehbar gewesen. Die frühe Pokalrunde, die Fussballprovinz mit ihrer unerfahrenen Polizei und die Nähe zu Moskau. Andere führten an, das Einlass-Szenario hätte die Aggressionen heraufbeschworen. In der Tat hätte man das mit einem späteren Anpfiff und entsprechenden Durchsagen vielleicht entspannen können. Aber es ist heutzutage nun mal so, man lässt lieber die Fans draußen, als den Fernsehzuschauer warten. Auch wird von Provokation gesprochen. Allzu demonstrativ hätte die Polizei vor dem Spiel gezeigt, wen und was sie alles dabei habe, insbesondere den Wasserwerfer.

Hervorzuheben ist, dass sich die Polizei im Stadion den Umständen entsprechend passiv und geduldig verhalten hat. Die Gewalt war aus meiner Sicht klar gegen die Ordnungskräfte gerichtet. Da spielt sicher auch die gesellschaftspolitische Situation in Russland eine Rolle. Vielleicht auch das Austesten von Grenzen und Erobern von Freiräumen in einem Staat, der die Freiheit stark beengt. Zudem schätze ich die Gewaltbereitschaft rund um das Spiel hier grundsätzlich höher ein. Das Hooligantum ist hier ungebremst in Fahrt. Große Clubs wie Spartak haben zahlreiche Gruppierungen aus unterschiedlichen Orten, die sich selbst im eigenen Lager immer wieder beweisen wollen. Unterm Strich hatte ich den Eindruck, dass hier viele die Konfrontation mit den Ordnungskräften gesucht haben.

Ich will hier gewiss nicht die Eventisierung des Spiels als Heilmittel anpreisen. Wenn man aber wenigstens mal ne Wurst essen könnte im Stadion, wäre das vielleicht schon ein einfacher Schritt dahin, dem Besuch von Fußballspielen eine andere Grundentspanntheit zu geben. Insgesamt sind die Spielbesuche vergleichsweise billig mit Eintrittspreisen zwischen 5-10€. So blöd es klingt – mir wurde gesagt, dass auch darin ein Teil des Problems liegt. Die Einnahmeseite aus dem Kartenverkauf ist sehr gering, wenn man das gegen die hohen Kosten für die Ausrichtung aufrechnet. Dies hat zu einer Situation geführt in der der Stadionbesucher einfach sehr wenig gilt bei den häufig wechselnden Clubbesitzern. Bei einigen Clubs, wie z.B. Torpedo Moskau sind die Fronten zwischen Geschäftsleitung und Fans völlig verhärtet. Russlands Fußball sei nicht für die Fans, wurde mir gesagt, es ginge um Sponsoren und Kontakte, um Prestige und eine gesellschaftliche Bühne. Regelrecht unliebsam und dementsprechend an den Rand gedrängt sind bei vielen Clubs die Fußballfans. Das ist bester Nährboden für eine isolierte Mobkultur, in der nur noch die eigenen Regeln gelten. So in etwa hat sich der Mittwochabend in Jaroslawl dargestellt.

Hakenkreuz in der Kurve

In der Berichterstattung sah ich auch Bilder von einer Hakenkreuzflagge im Spartak-Block, wahrscheinlich beim Einlaufen gezeigt. Zum einen führte es mir den Trugschluss vor Augen, man hätte alles gesehen, nur weil man dort war. Zum anderen ist das natürlich ein Bild, das einen weiteren Schatten auf den Tag wirft. Leider ist auch die Verwendung dieses Symbols in diesen Breiten keine Seltenheit. Ich sah in Kiew am Dnepr-Strand zwei Jungs eine entsprechend geformte Sandburg bauen und die ganze Palette aus SS-Totenkopf, Hakenkreuz oder Hitlergruß ist mir hier in Russland auch schon quergekommen. Als ich mich wegen letzterem beschwerte, bekam ich nur eine verdutze Anmerkung zurück, das sei doch unser (also Deutschlands) Gruß. Und es stimmt leider. Wir haben diese Symbolik, diese hässliche Fratze, in die Welt gesetzt, die mir jetzt vor Augen gehalten wird. Vielleicht aber liegt darin die Chance. Vielleicht schenkt man gerade uns Gehör, wenn wir zu verstehen geben, dass wir die Idee einer Herrenrasse für absolut verirrt halten.

Jaroslawl Spartak muss was machen, aber vor allem Russland muss was machen. Da ist auch die WM egal, die hierzulande immer schnell angeführt wird, weil es da drei Wochen in der Zukunft gibt, in denen uns das auch mal interessiert. Das Rassismus-Problem ist nicht einzig ein Fussball-Problem. Gerade in der Region um Moskau sind Vorurteile gegenüber Zuwanderern in vielen Haushalten verankert. Ein Freund sagte, man spreche hier von ‘Küchen-Rassismus’, weil er lägst nicht nur in den Köpfen einiger Halbstarker stattfinde. Auch Subkulturen wie Hiphop berufen sich hier teilweise auf die White Pride-Idee. Rechtsaußen scheint richtiggehend Mainstream zu sein. Die Hoffnung liegt darin, dass es sich vielleicht tatsächlich abnutzt. Aber wo sind die Alternativen? Links ist hier schwierig angesichts der Vergangenheit. Gibt es die Mitte? Kann man an den Staat glauben, der weiterhin Unfreiheit mit sich bringt? Im Fussball geht es stark nach rechts. Gegenbewegungen sind selten. In Russland selbst gab es rund um kleine Clubs vereinzelt antirassistische Bewegungen, wie bei Zvezda Irkutsk, Okean Nachodka, Karelia Petrosawodsk oder Spartak Naltschik. Diese verlieren sich oftmals, weil die Clubs selbst nicht lange überleben. In Belarus tut sich Partizan Minsk hervor, deren Deutschland Tour wir im Winter besuchten.

Herzlichkeit

Im Hostel angekommen bin ich ganz schön platt. In der Küche unterhalte ich mich mit Tatjana, die mit ihrem Bruder das Spiel besucht hat. Es war ihr erstes Fussballspiel in einem Stadion. Sie hatte sich auf einen netten Ausflug nach Jaroslawl eingestellt und ist auch noch mit den Eindrücken beschäftigt. Sie sagt, ihr Bruder, der schon viele Spartak-Spiele gesehen hat, hätte so etwas noch nie gesehen.

Irgendwann kommt er dazu. Sie plaudern rege und sie erzählt ihm, dass ich aus Deutschland sei. Er kocht Pelmeni und stellt mir gleich einen Teller hin. Außerdem gibt er mir ein Skizzenbuch und einen Stift.

Will er meine Adresse oder was? Ich frage Tatjana. Nein, ich solle einfach irgendwas zeichnen. Was zeichnen? Was soll ich zeichnen? Sie zeigt auf ihn. Ich soll deinen Bruder zeichnen? Wieso meinen Bruder? Unverständnis. Was soll ich zeichnen? Frag mal deinen Bruder was ich zeichnen soll? Wieso denn mein Bruder? Mein Bruder schläft schon.

Der Typ ist nicht gar nicht ihr Bruder. Er ist irgendwer. Sie kennt ihn gar nicht und dieses Skizzenbuch ist auch überhaupt nicht seins, sondern ein Gästebuch von der Hostel-Pinnwand. Genau das mag ich an Russland. Die Menschen gehen ohne große Berührungsängste aufeinander zu, so wie die beiden hier, die auf mich den Eindruck erweckten, sie gehörten zusammen. Sowohl die große Härte als auch die große Offenherzigkeit sind zwei starke Pole.

Die Stadt Jaroslawl

Jaroslawl Tags drauf führt mein erster Weg zur Wolga. Ich gehe ein Stück auf die Brücke hinaus, unter mir der große russische Strom vor mir die Vorstellung von endloser Weite. Der Fluss ist eine Linie hinter der eine andere, eine einsamere Welt beginnt, kalt und herausfordernd, nicht unterworfen und selbst bestimmend. Passend dazu ist die bedrohlich dunkle Wolkenfront, die sich über dem Fluss auftürmt, als mahne sie mich zur Umkehr. Und ich kehre um, denn ich will noch etwas von der Stadt sehen, die sich entlang des Westufers erstreckt. Jaroslawl tut gut nach der Geschäftigkeit Moskaus. Es ist eine wirklich ruhige Stadt. Man ist mal allein in einer Straße. Vor allem der historische Stadtkern, am Zusammenfluss von Wolga und Kotorosl gelegen, ist sehr ansehnlich und gut erhalten. Er gehört dem UNESCO Weltkulturerbe an. Ich fühle mich an manchen Stellen an Potsdam erinnert. Ich besuche den alten Stadtmauerbereich, den Kreml, bevor es mittags zu Fuß zum Bahnhof geht. Es hat zu regnen begonnen und es zeigt sich nun, dass die Stadt dann doch ganz schön groß ist. Der Weg wird zum Pfützenslalom und zieht sich erheblich hin.

Rückfahrt nach Moskau

Jaroslawl Der Zug ist ein anderer. Keine Schlafbänke, normale Sitze. Meiner ist neben Sergej. Er ist Spartak-Fan und wir kommen gleich ins Gespräch. Wieder einmal ist es erstaunlich, wie weit ein paar Dutzend Worte uns tragen. Der Fußballwortschatz erscheint mir manchmal wie eine eigene Sprache, die sie alle sprechen. Auch Sergej mag unsere Begegnung und beschwört das Einende, das vom Fußball ausgeht. Er sieht uns Fans in gemeinsamer Mission ‚Against modern Football‘. Über der Unterhaltung wird mir bewusst, dass hier noch etwas anders ist. Als Fußballfan ist man in Russland durchaus schneller isoliert und sieht sich gesellschaftlicher Ächtung ausgesetzt, als in Deutschland. Vielleicht ist es mit den 80er und frühen 90er Jahren vergleichbar. Auch daraus resultieren Radikalität und Intensität. Sergej jedenfalls spricht leiser, als er mir seine Nummer gibt und sagt, wenn ich irgendwann Probleme in Moskau hätte, Behörden Visum o.ä. solle ich mich melden. Er könne nichts versprechen, aber vielleicht helfen, schließlich sei er bei der Kriminalpolizei.

Wir rollen in Moskaus Jaroslawler Bahnhof ein. Sergej und sein Freund Vanya sind euphorisch ob der Rückkehr in ihre Heimatstadt. Auswärtsfahrt nach Rostov na Donu. Ob ich mitkäme. Erstmal nicht.fg

 

Gleich nebenan:
Unser Video aus dem Stadion
Bericht Torpedo Moskau – Dynamo St. Petersburg
Spitzenfotos: Strogino Moskau – Zenit St. Petersburg II

Weitere Links:
clubspartak.ru (Fanseite)
Wikipedia Spartak
Wikipedia Shinnik
Wikipedia Jaroslawl
Good Luck Hostel
Englische Seite der Russian Railways ‘RZD’

Bildergalerie:

 

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